Spitzenkandidaten

Spitzenkandidaten

Verirrungen der Europäisten

Karl Albrecht Schachtschneider

Perennierend propagieren Politiker „Demokratie“ in „Europa“ und kritisieren, daß der Europäische Rat nicht  den „Spitzenkandidaten“, der die „Europawahl“ ‚gewonnen‘ habe, als Präsidenten der Kommission der Europäischen Union vorgeschlagen haben.  Der Europäische Rat sind die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und die Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission. Der betroffene Politiker ist einer der vielen stellvertretenden Vorsitzenden der CSU Manfred Weber. Er war sogenannter Spitzenkandidat der EVP, der Europäischen Volkspartei. Die EVP ist eine „politische Partei auf europäischer Ebene“ im Sinne des Art. 10 Abs. 4 EUV, die „zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewußtseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union beitragen“. Bereits diese Satz des sogenannten Gründungsvertrages der EU ist eine Anmaßung und eine Verpflichtung zur Propagierung der EU, die keineswegs das „europäische politische Bewußtsein“ oder der „Wille“ der souveränen Bürger der Mitgliedstaaten der EU, die als Unionsbürger vereinnahmt werden, sein oder werden muß. Viele der Bürger haben noch immer ein Nationalbewußtsein, wie das für Bürger souveräner Völker und Staaten normal ist. Die politischen Parteien auf europäischer Ebene bestehen aus Parteien der Mitgliedstaaten und bilden im Europäischen Parlament (EP) Fraktionen. Über die Ablehnung des von der Kanzlerin Deutschlands vorgeschlagenen Vorsitzenden der Fraktion der EVP Manfred Weber vor allem durch den Präsidenten der Französischen Republik, den Ministerpräsidenten der Italienischen Republik und die Staats- oder Regierungschefs der Visegrád-Gruppe muß sich niemand betrüben. Er hat keinerlei Befähigung für dieses machtvolle Amt erkennen lassen.

Jüngst hat Jürgen Rüttgers es in einem Gastkommentar des Handelsblattes (9. Juni 2019, Nr. 129) als „skandalöse Entscheidung“ abgekanzelt, daß der Europäische Rat keinen Spitzenkandidaten der Wahlen zum EP als Kommissionspräsidenten nominiert habe. Die „Europawahl sei ohne Zweifel ein positives Signal für den Kontinent“ gewesen. Die „Unionsbürger“ hätten „gegen die Feinde Europas, wie den amerikanischen und den russischen Präsidenten“ „ein klares Signal für die Zukunft“ gegeben, weil „mehr als die Hälfte der 400 Millionen Wählerinnen und Wähler sich an der Wahl beteiligt“ hätten. „Erstmals ist die Wahlbeteiligung in der zweitgrößten Demokratie der Welt um acht Prozent gestiegen“.  Er beklagt, daß „der europäische Rat keine europäische, sondern nur eine national Legitimation“ habe. Es sei „höchste Zeit, die antidemokratischen Hinterzimmerklüngeleien abzuschaffen“. „Wichtig“ sei „die Fortentwicklung der Demokratie in Europa“. Von Demokratie, von den Institutionen der EU oder gar von der Souveränität der Völker versteht dieser Rechtsanwalt und frühere Bundesminister und Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens wenig. Er weiß nicht einmal, was Europa ist. Er gehört auch zu denen, die ihr Defizit an Kenntnissen des Staates und des Rechts durch begriffsferne Bekenntnisformeln ersetzen. Das scheint die eigentliche Qualifikation für deutsche Politiker zu sein.

Zur Sache:

  1. Die Europawahl, bereits ein Euphemismus, ist keine Wahl in oder für Europa, sondern in der und für die EU, der kleinere Teil des Kontinents, der Europa genannt wird. Europa ist der Kontinent am Atlantik, der durch den Ural von Asien getrennt ist. Die EU ist eine völkerrechtliche Organisation, ein Staatenverbund (BVerfGE 89, 155 (184, 186, 188 ff.); 123, 267, Rn. 229), von (noch) 28 Staaten, die zu Europa gehören. Dazu gehört Rußland, das den größten Teil Europas ausmacht, nicht, nicht die Ukraine, nicht Weißrußland, nicht Norwegen, aber auch nicht die Schweiz, nicht Lichtenstein, nicht verschiedene Balkanstaaten, usw.
  2. Das EP ist kein Parlament im demokratischen Sinne. Diese „Versammlung“ „aus Vertretern der Völker“ (Art. 137 EWGV) oder das EP aus „Vertretern der Völker“ (Art. 137 Abs. 1 EGV i. d. F. des EUV), wie das Bundesverfassungsgericht nach wie vor das EP der EU qualifiziert (Lissabon-Urteil BVerfGE 123, 267, Rn. 280 ff., 286), hat keine demokratische Legitimationskraft und ist kein wirkliches Parlament[1]. Das EP setzt sich nicht „aus Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zusammen“ (so aber Art. 14 Abs. 2 S. 1 EUV). Die Abgeordneten vertreten kein Volk. Es gibt kein Volk der Europäer, nicht einmal ein „Unionsvolk“ (BVerfGE 123, 267, Rn. 280, 346 ff.), weder institutionell, noch gesellschaftlich, nämlich keine Identität der von den Verträgen der EU so genannten Unionsbürger (Art. 10 Abs. 2 EUV) als ein Volk. Die Abgeordneten im EP vertreten die Bürger ihrer Herkunftsländer. Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil Art. 10 Abs. 1 S. 1 EUV als Anmaßung zurückgewiesen, BVerfGE 123, 267, Rn. 280: „Das Europäische Parlamentist auch nach der Neuformulierung in Art. 14 Abs. 2 EUV-Lissabon und entgegen dem Anspruch, den Art. 10 Abs. 1 EUV- Lissabon nach seinem Wortlaut zu erheben scheint, kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes. Dies spiegelt sich darin, dass es als Vertretung der Völker in den jeweils zugewiesenen nationalen Kontingenten von Abgeordneten nicht als Vertretung der Unionsbürger als ununterschiedene Einheit nach dem Prinzip der Wahlgleichheit angelegt ist“. Demgemäß wurden die Abgeordneten des EP auch von den Völkern der Mitgliedstaaten in getrennten Wahlverfahren gewählt, jedes Land für sich. Keinesfalls sind „die Bürgerinnen und Bürger auf der Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“, wie das Art. 10 Abs. 2 EUV sagt. Das ist ein Satz der europäistischen Propaganda, der demokratische Verhältnisse zu suggerieren versucht, vergeblich. Schlimmer noch, wenn der Satz ernst genommen wird, besagt er, daß die Bürger von Mandatsträgern vertreten werden, die sie nur zum kleinen Teil gewählt haben. Weniger demokratisch geht es kaum. Die Bürger der Mitgliedstaaten werden nach außen von ihrem Staat vertreten. Es gelingt nicht, die EU zu einer Organisation sui generis zwischen staats- und völkerrechtlicher Ordnung zu stilisieren. Dabei werden die jeweiligen Rechtsprinzipien mißachtet und wird die Souveränität der Völker als die Freiheit der Bürger verletzt, aus der sowohl das Staatsrecht als auch das Völkerrecht in jeweils eigener Form folgt. Das demokratische Prinzip ist als politische Form der allgemeinen Freiheit essentiell und erlaubt keine freiheitswidrigen Wortspielereien, die eine Mißachtung der Gleichheit in der Freiheit aller Bürger sind. Die Gleichheit der politischen Freiheit kennt die EU auf Unionsebene nicht. Essentiale eines Parlaments ist die egalitäre Wahl der Abgeordneten, die wegen der Gleichheit der Bürger in der politischen Freiheitzwingend geboten ist (BVerfGE 1, 208 (248 f.); 16, 130 (138 ff.); 95, 408 (417 f.))[2]. Das Stimmengewicht der Wähler des EP ist jedoch extrem unterschiedlich. Ein Abgeordneter des EP aus Deutschland vertritt 1100 % mehr Bürger als ein Abgeordneter aus Malta, aber auch ungleich mehr Bürger als die Abgeordneten aller anderen Mitgliedstaaten. Schon deswegen können ihre Organe als solche nicht demokratisch legalisiert sein (i.d.S. BVerfGE 123, 267, Rnn. 280 ff., 286). Würde das EP nicht die Interessen vieler Politiker an einem reichlich ausgestatteten und bestens dotierten Parlamentsmandat befriedigen, wäre es überflüssig. Es stört und kostet Geld. Der Schein von demokratischer Legitimation ist der Würde des Menschen zuwider, nämlich der Idee des Rechts. „Die höchste Ungerechtigkeit ist, daß man gerecht scheine, ohne es zu sein“[3].

Manfred Weber war Kandidat auf dem ersten Platz der deutschen Europawahlliste der CDU/CSU. Er stand in keinem anderen Mitgliedstaate der EU zur Wahl und dürfte das auch nicht. Er ist jetzt einer der Vertreter des deutschen Volkes im EP. Er vertritt kein anderes Volk. Wahlpolitisch sei bemerkt: In den anderen Völkern der EU kannte kaum jemand diesen Kandidaten. Niemand dürfte seine Stimme wegen Manfred Weber der Partei gegeben haben, die er in seinem Land gewählt hat, nicht einmal in Deutschland außer vielleicht einige Wähler in Bayern.

  1. Die Entscheidungen des EP verschaffen den Maßnahmen der EU keine demokratische Legalität. Dem EP komme für die Legitimation der Rechtsakte der Gemeinschaft „eine stützende Funktion“ zu, hat das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil ausgesprochen (BVerfGE 89, 155 (184, 186, 188 ff.)) und im Lissabon-Urteil von einer „eigenständigen zusätzlichen Quelle für demokratische Legitimation“ gesprochen (BVerfGE 123, 267, Rn. 262, 271, S. 276 ff., 280 ff., 289 ff., insb. Rn. 262, 271), mehr also nicht[4]. Das war integrationsfreundlich. Die demokratische Legalität der Rechtsakte der EU können nur die nationalen Parlamente mittels ihrer Zustimmungen zu den Ermächtigungen der EU in den Gründungsverträgen bewirken. Diese Ermächtigungen müßten nach dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung (Art. 5 EUV; BVerfGE 89, 155 (181 ff., 191 ff.); 123, 267, Rn. 226, 234 ff., 262, 265, 272, 275, 298 ff., 300 ff., 326)[5] so bestimmt sein, daß die Politik der EU voraussehbar und dadurch verantwortbar ist (BVerfGE 89, 155, Rn. 116, 122, 137, 139, 147; vgl. schon BVerfGE 58, 1 (37); 68, 1 (98 f.)). Das ist eine fragwürdige Dogmatik, aber der Rettungsanker der demokratischen Legitimation der Rechtsakte der EU, den das Bundesverfassungsgericht geworfen hat. In der Praxis sind die Ermächtigungen weit und offen und umfassen fast den gesamten Bereich möglicher Politik[6]. Die Maßnahmen der EU sind in keiner Weise voraussehbar, schon gar nicht verantwortbar. Die EU ist eine durch und durch demokratiewidrige Veranstaltung, ein monster horribile, eine bürokratische Diktatur.
  2. Dem EP mangeln nicht nur wesentliche Parlamentsbefugnisse, insbesondere das Initiativrecht für Rechtsetzungsakte, sondern auch die für Parlamente üblichen Kontrollinstrumente gegenüber den Regierungen, insbesondere das Recht den Regierungschef auszutauschen, sei es durch destruktives, sei es durch konstruktives Mißtrauensvotum. Es gibt nicht einmal einen Regierungschef der EU, sondern allenfalls jemanden, der so tut als sei er das, den Kommissionspräsidenten. Es gibt nämlich keine Regierung der EU, die in einem Staatenverbund nicht in Betracht kommt. Die Organe der EU sind neben der Kommission der Europäische Rat und der Rat, der sogenannte Ministerrat, die Europäische Zentralbank und der Europäische Gerichtshof sowie der Rechnungshof, alle ohne demokratische Dignität[7], sondern völkerrechtliche Institutionen mit staatsrechtlichen Elementen, die mangels demokratischer Legitimität die Souveränität der Bürger und Völker verletzen. Die Minister der Mitgliedstaaten im Rat sind im Wesentlichen an die Richtlinien ihres Regierungschefs gebunden. Die EU hat eine eigenständige Machtbalance der Organe. Außer der Personalpolitik wird die Politik keineswegs nur von den Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmt. Darum sind die Personalentscheidungen sehr wichtig.

Die EU, eine völkerrechtliche Organisation, hat sich nicht nur funktional, sondern auch institutionell stark einem Staat angenähert und wird meist als supranational (im Gegensatz zu international) qualifiziert. Fragwürdig sind insbesondere die Mehrheitsentscheidungen der Organe, die dem Völkerrecht fremd sind. Es gibt sie in Streitschlichtungsverfahren, aber die Entscheidungen dieser Gerichte binden die Staaten im Prinzip nicht, sondern klären lediglich die Rechtslage. Der Begriff der Supranationalität hat keinen staats- oder völkerrechtlichen Gehalt, der Rechtsfolgen abzuleiten erlaubt.

Die Europäisten wollen die EU im Sinne der „immer engeren Union“ zum Bundesstaat als einem souveränen Staat weitertreiben und den Mitgliedstaaten und deren Bürgern die Souveränität streitig nehmen. Mit der Freiheit der Bürger ist das schlechterdings nicht zu vereinbaren. Wegen der Größe der EU und wegen der Heterogenität der Völker ist das Demokratiedefizit der EU unüberwindlich. Ein Staatenverbund als eine Art Staatenbund souveräner Völker kann nicht demokratisch organisiert sein. Dem Schritt zum Staat steht die Souveränität der Völker, die Freiheit der Bürger, entgegen.

  1. Ein echter Parlamentarismus setzt einen Staat voraus. Der kann nur die Organisation eines Volkes zur Verwirklichung des gemeinen Wohls sein. Die Staatseigenschaft der EU kann nicht mit demokratistischem Gerede geschaffen werden, sondern allenfalls mit Entscheidungen der Völker, ihre Souveränität aufzugeben, um einen Großstaat EU zu begründen (so auch BVerfGE 123, 267, Rnn. 179, 226 ff., auch Rn. 346 ff.)[8]. Davor kann man sich nur fürchten. Er wäre das Ende des europäischen Charakters der Mitgliedstaaten der EU, die immerhin noch gewisse demokratische und rechtsstaatliche Elemente haben. Freilich werden diese vom neoliberalen globalen Kapitalismus im Schulterschluß mit dem globalen Egalitarismus der Sozialisten zunehmend zerrieben. Diese sind auch die Triebkräfte des Großstaates ‚Europa‘.

Der Großstaat EU würde im Zweifel dem Beispiel Chinas folgen und sich zu einer sozialistisch kapitalistischen Diktatur entwickeln. Der Vorsitzende der Grünen Robert Habeck  hat seine Präferenz für einen solchen chinagleichen Großstaat zu erkennen gegeben. Mit dem Begriff des Volkes kann dieser ‚Politiker‘ nichts anfangen[9], also auch nichts mit dem Grundgesetz; denn das Volk, nämlich das Deutsche Volk, ist der Kernbegriff des Grundgesetzes. Es verfaßt das Volk der Deutschen zu einem Staat, von dem alle Staatsgewalt Deutschlands ausgeht (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Wer nicht weiß, was ein Volk ist, kann kein Demokrat sein. Er ist zur Vertretung des Volkes nicht befähigt, weil er dieses gar nicht zu erkennen vermag. Die demokratistische Rhetorik ist reine Heuchelei. Auch die freiheitliche demokratische Grundordnung, die ein Politiker in Deutschland zu verwirklichen verpflichtet ist, muß ein Politiker, der sein Volk leugnet, verkennen. Demokratie und Rechtstaat sind nur in kleinen Einheiten, in hinreichend homogenen Völkern, zu verwirklichen. Das sind die Deutschen, soweit Fremden nicht ohne die hinreichende deutsche Homogenität, also ein Minimum an deutscher Sprachfähigkeit und ein Minimum an deutscher Kulturalität die deutsche Staatsangehörigkeit zugesprochen wurde. Derartige Naturalisationen sind wegen evidenter Rechtswidrigkeit nichtig.

  1. Das EP hat der wiederum demokratistischen Formulierung in Art. 17 Abs. 7 S. 2 EUV zuwider nicht die Aufgabe, den Kommissionspräsidenten zu „wählen“. Es kann den Vorschlag des Europäischen Rats lediglich mit der Mehrheit seiner Mitglieder „wählen“, der Funktion nach also annehmen oder ablehnen. Wer weder ein Vorschlagsrecht noch eine Alternative hat, wählt nicht.

Ein Auswahlmöglichkeit haben nur die Mitglieder des Europäischen Rates, deren Vorschlag der qualifizierten Mehrheit bedarf (Art 17 Abs. 7 S. 1 EUV). Sie können jeden Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten vorschlagen. Die Mitglieder der Kommission sollen „aufgrund ihrer allgemeinen Befähigung und ihres Einsatzes für Europa unter Persönlichkeiten ausgewählt“ werden, „die volle Gewähr für ihre Unabhängigkeit bieten“ (Art. 17 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV). Was mit „Europa“ gemeint ist, ist unklar. Es sollten Menschen sein, die die EU abschaffen wollen, damit Europa wieder europäisch werden kann, ein Erdteil souveräner Volker, bestmöglich in einem Staatenbund befriedet. Sonst mußte in dieser Vorschrift stehen „für die Europäische Union“. Bei der Auswahl des Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten soll das Ergebnis der Wahlen zum EP „berücksichtigt“ werden (Art. 17 Abs. 7 S. 1 EUV). Damit gewinnt ein in seine Parteiengruppe eingebundener Unionspolitiker eine besondere Beachtlichkeit. Das widerspricht der geforderten „vollen Gewähr für die Unabhängigkeit“. Parteilichkeit und Unabhängigkeit von Amtswaltern sind ein Widerspruch.

Die, wenn man so will, Verfassungsregelungen der Unionsverträge sind typisch, weil kompromisshaft, widersprüchlich. Mit solchen Regelungen läßt sich jedwede Politik begründen. So hat die Propaganda für die sogenannten Spitzenkandidaten dieses Berücksichtigungsgebot zu dem Recht stilisiert, daß der ‚Sieger‘ der „Europawahl“ beanspruchen könne, zum Präsidenten der Kommission nominiert zu werden. Erstens gibt es diese Europawahl der EU nicht, sondern nur nationale Wahlen in den Mitgliedstaaten der EU, zweitens wäre, wenn man die Wahlen als eine Wahl instrumentalisiert, diese Wahl kraß gleichheitswidrig und damit ein grobe Verletzung des demokratischen Prinzips. Ausgerechnet Ignoranten der Verträge und des Rechts in demokratischen Republiken berufen sich mit heuchlerischer Leidenschaft auf die „Demokratie in Europa“. Sie verwechseln Demokratie mit ihren Interessen.

Das Gerede vom Recht des vermeintlich siegreichen Spitzenkandidaten auf das Amt des Kommissionspräsidenten analog einem Regierungschef, in das jeder einzustimmen hat, der demokratisch erscheinen will, selbst Ursula von der Leyen, die entgegen diesem Postulat zur Kommissionspräsidenten gemacht worden ist, ist hohl und fernab jeder Verfassung. Ein entsprechendes Recht gibt es auch in Deutschland nicht. Der Bundestag wählt, meist nach einer Bundestagswahl, auf Vorschlag des Bundespräsidenten den Bundeskanzler (Art. 63 GG), den er will. Dieser muß nicht einmal dem Bundestag angehören. Die Wahl des Bundestages ist freilich der Wille, besser: die Willkür, der Mehrheit des Abgeordneten. Dadurch kann die Verfassung parteienstaatlich entgegen dem Prinzip der Bestenauslese mißbraucht werden. Durch die Parlamentswahlen wählt das Volk lediglich die Mitglieder des Parlaments, die Vertreter des ganzen Volkes.

Die Formel Spitzenkandidat sollte aus dem Sprachgebrauch der Demokratie verschwinden.

Berlin, den 17. Juli 2019

[1] Dazu K. A. Schachtschneider, Souveränität. Grundlegung einer freiheitlichen Souveränitätslehre. Ein Beitrag zum deutschen Staats- und Völkerrecht, 2015, S. 466 ff. ders.,  Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil J I; J. Ott, Das Europäische Parlament als Parlament, 2015.

[2] Das Stimmgewicht der Wähler in den Wahlkreisen der Bundestagswahl darf nur um 33 1/3 % voneinander abweichen.

[3] Platon, Politeia/Der Staat, in: G. Eigler (Hrsg.) Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, Bd. 4, Übersetzung von F. Schleiermacher und H. Müller, bearbeitet von D. Kurz, 2. Aufl. 1990, 361a.

[4]Demgegenüber EGMR, EuGRZ 1999, 200 (204), das dem Europäischen Parlament zumißt, „das grundlegende Instrument der demokratischen und politischen Kontrolle in dem System der Europäischen Gemeinschaft“ zu sein, weil „dessen demokratische Legitimation auf unmittelbarer allgemeiner Wahl beruht“ und das Parlament „derjenige Bestandteil in der Europäischen Gemeinschaftsstruktur anzusehen ist, der dem Bemühen, ‚wirksame politische Demokratie‘ sicherzustellen, am meisten entspricht“; das ist eine euphemistische, aber auch decouvrierende Formulierung.

[5] K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, 2006, S. 71 ff.; ders., Souveränität, S. 479 ff.

[6] Dazu K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde gegen den Lissabon-Vertrag, vom 25.  Mai 2008, BvR 1094/08. Homepage: www. KASchachtschneider.de, unter Downloads, 3. Teil, B bis H; ders., Souveränität, S. 472 f.

[7] Dazu K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 460 ff.

[8] K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 177, 272 f.; ders., Die nationale Option, 2017, S. 210 ff.

[9] Jürgen Fritz Block vom 5. Mai 2018, Habeck: „Es gibt kein Volk“.