Absolutes Folterverbot ?

Versus absolutes Folterverbot – pro Leben

Karl Albrecht Schachtschneider

I

Ferdinand von Schirach, der weltweit gelesene Schriftsteller, war viele Jahrzehnte Strafverteidiger. Einige seiner Erzählungen wurden für das Fernsehen verfilmt. In gespielten Strafverfahren führen sie Rechtsprobleme zur Entscheidung. Die Kontradiktorik der Hauptverhandlungen schafft eine unterhaltsame Spannung. Die Zuschauer werden aufgefordert, die erregenden Rechtsfragen zu entscheiden. Seine Rechtsauffassung läßt von Schirach das Gericht aussprechen. Die Mehrheit der Zuschauervoten hat bisher entgegen von Schirachs Meinung votiert. So auch in dem Stück Feinde.

Der Oberkommissar ist sich dank seiner kriminalistischen Erfahrung sicher, daß der von ihm verhaftete Leibwächter einer Grunewalder Familie die zwölfjährige Tochter Lisa entführt hat, um von den vermögenden Eltern ein Lösegeld in Millionenhöhe zu erpressen. Der Polizist sieht keine Möglichkeit, das Kind zu finden und dessen Leben zu retten, als den Verdächtigen mittels Gewalt zu zwingen, das Versteck des Mädchens zu nennen. Das erreicht der Polizist mittels Waterboarding. Lisa wird gefunden, tot. Giftige Dämpfe, die aus dem Ofen in den fensterlosen Raum ihres Gefängnisses geströmt sind, haben sie erstickt. Der im Prozeß schweigende Mörder wird freigesprochen, weil der einzige Beweis seiner Schuld seine durch Folter abgenötigte Bekanntgabe der Adresse des Verstecks seines Opfers war, wie der Oberkommissar vor Gericht bezeugt hat. Der Rechtsstaat hat gesiegt, triumphiert der Verteidiger des Mörders.

Die Erzählung ist an den Mordfall Jakob von Metzler angelehnt, in dem der Polizeivizepräsident von Frankfurt Wolfgang Daschner durch Androhung empfindlicher Schmerzen mittels Verdrehen des Armes den (wahrscheinlichen) Entführer veranlaßt hatte, das Versteck des entführten Opfers zu nennen. Der Jurastudent Magnus Gäfgen hatte in dem Zeitpunkt den elfjährigen Jakob bereits ermordet und an einem See abgelegt. Der mit der Folter bedrohte Mörder hatte von dem Vater Jakobs, einem Bankiers, Geld in Millionenhöhe erpreßt. Er wurde zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Der Polizeivizepräsident wurde wegen Folterdrohung wegen Nötigung  im Amt nach § 240 StGB von der 27.Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main zu einer Verwarnung mit Strafvorbehalt und zu 10 800 Euro Geldstrafe verurteilt. Dem Mörder Gäfgen hat das Landgericht Frankfurt wegen Folterdrohung 3000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen. Ihm wird erlaubt, seinen Namen zu ändern und das Jurastudium im Gefängnis zu beenden. Jeder mag selbst bedenken, wie ein Staat zu beurteilen ist, der durch derartige ‚Resozialisierung‘ seiner Pflicht zur Generalprävention gerecht zu werden meint.

Ferdinand von Schirach irrt. Der Rechtsstaat hat nicht gesiegt, sondern hat, wie so oft, eine bittere Niederlage erlitten. Grund ist die Schwäche rechtsstaatlicher Dogmatik des Autors. Er verkennt nicht anders als das Landgericht Frankfurt am Main den Begriff der Würde des Menschen und versteht nicht, das Folterverbot richtig in die Grundrechtsordnung einzuordnen. Der das Publikum belehrende Effekt des Freispruchs des Mörders um des Rechtsstaates willen war dem Autor wichtiger als hinreichend den verfassungsrechtlichen Status der Würde des Menschen zu erforschen und gründlich über den Fall nachzudenken. Das war allerdings dem Landgericht Frankfurt im Fall Jakob von Metzler auch gründlich mißlungen.

II

Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, ist das Leitprinzip der Verfassung Deutschlands. Es steht nicht zur Disposition des Gesetzgebers, nicht einmal zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers. Die Würde ist mit dem Menschen geboren. Darum muß jedenfalls in der aufklärerischen Kultur des christlichen Abendlandes die Grundlage eines Staates der Mensch in seiner Würde sein. Dieser herausgehobene Status des Menschenwürdesatzes hat Rückwirkung auf seine Materie. Es können nicht alle möglichen Rechtssätze durch diesen Satz unantastbare, absolute Verbindlichkeit erlangen, denen die Richter und auch nicht die Richter des Bundesverfassungsgerichts unabänderliche Verbindlichkeit beizumessen geneigt sind. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist kein offener Rechtssatz, der jedwede Rechtssätze verabsolutiert,  denen im Gemeinwesen überragende Bedeutung beigemessen wird. So praktiziert allerdings das Bundesverfassungsgericht den Menschenwürdesatz mit vielfacher Materialisierung. Wegen des Urteils des Ersten Senats vom 21. Juni 1977 — 1 BvL 14/76 — (BVerfGE 45, 187 ff., Rn. 226) kann beispielsweise nach § 57 a StGB die lebenslange Freiheitsstrafe nach Verbüßung  von 15 Jahren der Strafe unter gewissen Umständen zur Bewährung ausgesetzt werden, weil dem verurteilten Täter, auch dem Mörder, wegen seiner Würde als Mensch  noch „die Chance gelassen werden müsse, die Freiheit wiederzuerlangen, im Regelfall nach 15 Jahren Strafhaft“. Diese Regelung kommt auch dem wegen Mordes nach § 211 StGB zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Markus Gäfgen zu Gute. Ich habe in meiner Abhandlung zum Menschenwürdesatz des Grundgesetzes auf weitere Judikatur hingewiesen.

Aber aus dem Menschenwürdesatz folgen keine materiellen Rechtssätze mit absoluter „unantastbarer“ Verbindlichkeit. Das ergibt bereits die naheliegende Überlegung, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht die Verfassungsgeber sind. Sie sind nicht einmal die Gesetzgeber. Auch sie sind als Richter dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Art. 20 Abs. 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. In diesen beiden Sätzen sind zwei Fundamentalprinzipien des Grundgesetzes ausgesprochen, das demokratische Prinzip und das rechtsstaatliche Prinzip horizontaler Gewaltenteilung. Die Judikatur zum Art. 1 Abs. 1 GG verletzt beide ausweislich Art. 79 Abs. 3 GG, der sogenannten Ewigkeitsklausel,  dem Art. 1 Abs. 1 GG gleichrangigen Grundsätze des Grundgesetzes.

Gesetze können die  Gesetzesanwendung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG nur binden, wenn sie hinreichend bestimmt sind. Der Unantastbarkeit der Würde des Menschen mangelt die materielle Bestimmtheit und sie ist als ein subsumtionsfähiger Rechtssatz ungeeignet. Wegen seiner alle anderen materialen Rechtsvorschriften in Deutschland überragenden Verbindlichkeit kann der Menschenrechtssatz nur eine Relevanz haben, die keinerlei Deutungsvielfalt zuläßt. Die Formalität der Materie des Menschenwürdesatzes folgt zwingend aus den weiteren fundamentalen Prinzipien des Grundgesetzes, nämlich dem demokratischen Prinzip und vor allem dem Rechtsstaatsprinzip, zusammengefaßt dem Republikprinzip. Formalität besagt, daß der Menschenwürdesatz keine subsumtionsfähige Rechtsmaterie hat, sondern bestimmt, wer diese Materie bestimmt und wie die Materie bestimmt wird, nämlich durch die Menschen, die zum Volke gehören, die Bürger; denn unter den Gesetzes zu leben, die sie selbst gegeben haben, ist ihre Würde. Die Würde des Menschen verwirklicht sich im demokratischen Prinzip, mittels dem das Recht geschaffen wird. Nur das ist einem freiheitlichen Gemeinwesen, das ein Rechtsstaat sein muß, gemäß, in Deutschland jedenfalls seit der Revolution 1918.

Ein offener materieller Verfassungssatz gibt dem Bundesverfassungsgericht, das dessen Materie bestimmt, eine alle anderen Staatsorgane erdrückende Macht. Mittels des materiellen Verständnisses des Menschenwürdesatzes erhebt sich das Bundesverfassungsgericht zum Verfassungsgeber. Die Verfassungsrichter machen sich zu den Vormündern des Volkes, die mehr und mehr beliebige Moralismen in höchste Rechtssätze umwandeln. Diese Machtusurpation ist ein grober Verstoß gegen das demokratische Prinzip, grobes Unrecht. Dafür reicht die schmale demokratische Legitimation der Richter des Bundesverfassungsgerichts bei weiten nicht. Alle Staatsgewalt geht von Volke aus (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), nicht von den Richtern, auch nicht von den Richtern des Bundesverfassungsgerichts. Diese Richter sind zur einen Hälfte vom Deutschen Bundestag und zur anderen Hälfte von Bundesrat gewählt (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG). Die Wahl ist im realen Parteienstaat parteilich und die Richter des Bundesverfassungsgerichts waren bisher alle Parteimitglieder. Es sind nicht immer die Besten der Juristen, schon gar nicht die Besten der Verfassungsrechtler, wenn sie sich dank ihrer Macht auch anders sehen mögen. Immerhin ist ihre Amtszeit auf zwölf Jahre begrenzt.

Das Rechtsstaatsprinzip, das in der Republik letztlich mit dem demokratischen Prinzip identisch ist (K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, 2006, S.16 f.; ders., Freiheit in der Republik, 2007, S. 74 f.) besagt nach Art. 20 Abs.  3 GG zugleich: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden“. Die „verfassungsmäßige Ordnung“ ist die freiheitliche demokratische Grundordnung, nicht etwa die verfassungsgemäße Gesetzesordnung. Letzteres würde den Gesetzgeber an die bestehenden Gesetze binden. Dann müßte er seine Arbeit einstellen. Diese Überlegung leitet zum richtigen Verständnis des Menschenwürdesatzes des Art. 1 Abs. 1 GG, nämlich zur Unantastbarkeit einer freiheitlichen Rechtsordnung. Diese besteht aus Gesetzen, die die Gesetzgeber von Bund und Ländern erlassen und die dem Recht genügen müssen, insbesondere den Grundrechten. Demgemäß besagt der Menschenwürdesatz, um es zu wiederholen: Die Bürger Deutschlands haben das Recht, unter den Gesetzen zu leben, die sie selber geben, unmittelbar durch Volksentscheide oder mittelbar durch die von ihnen gewählten Parlamente  als die Versammlungen der Vertreter des Volkes, als demokratisch. Die Würde des Menschen ist es, unter dem selbst gegebenen Gesetz zu leben, nicht als Untertan der Obrigkeit, sondern in Freiheit. Freiheit wird Wirklichkeit durch die Gesetze, weil nur durch die Gesetze alle Bürger frei sind, wenn denn die Gesetze demokratisch legalisiert sind. Gesetze sind ihrem Begriff nach allgemein, also Gesetze aller Bürger, die in einem Staat zusammenleben. Gesetze schränken die Freiheit nicht ein, sondern verwirklichen die Freiheit, nämlich die allgemeine Freiheit, die Freiheit aller. Der Würdebegriff stammt von Kant: „Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat“; denn: „Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen, und auch auf jede andere Handlung gegen sich selbst, und diese selbst zwar nicht um irgend eines andern praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vorteils wegen, sondern aus der der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ (GzMdS, ed. Weischedel, Bd. 6, 1968, S. 68, 67, BA 78, 76, 77).

Mit Art. 1 Abs. 1 GG formuliert das Grundgesetz als Konstitutionsprinzip Deutschlands die freiheitliche Gesetzlichkeit des gemeinsamen Lebens der Bürger, gibt aber keine materiellen Rechtssätze, an Hand derer Rechtsstreitigkeiten entschieden werden könnten. Diese Gesetze müssen erst von der Bürgerschaft als der Republik erlassen werden. Aus dem Menschenwürdesatz können nicht unmittelbar subjektive Rechte hergeleitet werden. Subjektive Rechte bedürfen einer jeweiligen gesetzlichen Grundlage. Die politische Freiheit der Bürger hat schon im Grundgesetz besondere gesetzliche Grundlagen, vor allem in dem Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, den Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG, der Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG, der Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG, der Parteienfreiheit des Art. 21 Abs. 1 GG, den staatsbürgerlichen Rechten des Art. 33 GG, den Wahlrechten des Art. 38 Abs. 1 GG, letztlich allen Grundrechten.

Demgemäß stellt Absatz 2 des Art. 1 GG klar: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlege jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Die Menschenrechte, in Deutschland weitestgehend als Grundrechte verwirklicht, sind wesentliche materielle Rechtssätze. Das „darum“ ist interpretatorisch aufschlußreich. Die Menschenrechte sind Rechtssätze, die bereits in der Verfassung die „Verpflichtung  aller staatlichen Gewalt“ genügen, die unantastbare Menschenwürde „zu achten und zu schützen“. Würden aus dem Menschenwürdesatz subjektive Rechte hergeleitet werden können, bedürfte es keines Grundrechtskatalogs. Die Grundrechte würden bereits im Menschenwürdesatz stehen. Freilich wären sie nicht so differenziert formuliert wie im grundgesetzlichen Grundrechtskatalog und noch stärker der Politik der Rechtsprechung überantwortet als trotz der näheren Regelungen in den Grundrechtstexten.

Für das Verbot der Folter als einem speziellen materiellen Rechtssatz kann somit der Menschenwürdesatz des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG nicht in Stellung gebracht werden und darum auch nicht der herausragende Rang dieses Satzes, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen.

Das Bundesverfassungsgericht hat auch bisher das Folterverbot in keinem Urteil als Ausdruck der Würde des Menschen erkannt. Die Dritte Kammer des Zweiten Senats hat lediglich in der Gäfgen-Sache u. a. den Vorwurf der Mißachtung der Menschwürde durch die Androhung schwerer Schmerzen, damit der Entführer preisgebe, wo sein Opfer, der zwölfjährige Jakob von Metzler zu finden sei, erörtert und die Verfassungsbeschwerde des Mörders Gäfgen nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Relevanz der vorgeworfenen Folter für das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main nicht hinreichend dargelegt worden sein (Beschluß vom 14.12.2004 – 2 BvR 1249/04 -, NJW 2005, 656).

Ich habe zum Menschenwürdesatz  des Grundgesetzes in einem Essay Stellung genommen, der in meiner Homepage KASchachtschneider.de zu lesen ist, zur kantianischen Grundlegung der Würde S. 16 ff.

III

Das Verbot der Folter hat seine verfassungsrechtliche Grundlage nicht im Menschenwürdesatz, sondern vor allem in Art. 2 Abs. 2  S. 1 GG: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. In dieses Grundrecht darf nach Satz 3 des Art. 2 Abs. 2 GG „auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“. Nach Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG dürfen „festgehaltene Personen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden“.

Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) erklärt: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“. Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK schützt das Recht auf Leben jedes Menschen. Die Vorschriften dieser Konvention des Europarates sind in Deutschland nicht unmittelbar anwendbar. Durch Art. 46 Abs. 1 EMRK haben sich die Vertragsparteien verpflichtet, „in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen“. Das Bundesverfassungsgericht billigt den Vorschriften der Konvention Relevanz als Auslegungshilfen der Grundrechte und der Prinzipien des Rechtsstaates zu (BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 (317); 120, 180 (200) u. ö), mehr nicht.

Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union, weitgehend der EMRK nachgebildet, erklärt auch die „Würde des Menschen für unantastbar“ und  für „zu achten und zu schützen“ (Art. 1). Art. 4 lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“. Nach Art. 2 Abs. 1 hat „jeder Mensch das Recht auf Leben“, nach Art. 3 Abs. 1 „das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit“. Die Anwendung der Grundrechtecharta ist durch Art. 51 auf Unionsangelegenheiten beschränkt.

Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 erklärt: „Alle Menschen sind gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“. Bemerkenswert ist, daß Würde und Rechte nebeneinander genannt werden, also  Rechte nicht schon aus der Würde gefolgert werden können. Nach Art. 3 hat „jeder das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ und nach Art. 5 „darf niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung hat begründet keine subjektiven Rechte der Menschen gegenüber den Einzelstaaten.

Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 bestimmt in Art. 7: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Insbesondere darf niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden“. Art. 6 Abs. 1: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden“.

Der Pakt schützt im Wesentlichen die Menschenrechte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Er ist u. a. in der „Erkenntnis vereinbart, daß sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“. Diese Erkenntnis bestätigt, daß die Rechte des Paktes nicht schon in dem Menschenwürdesatz normiert sind, sondern diesen Satz durch die Rechte des Paktes verwirklichen. Die Würde des Menschen ist nicht als eigenständiges Recht im Teil III des Paktes aufgeführt.

Verletzungen dieses Paktes können durch schriftliche Mitteilung nach Art. 2 des Fakultativprotokolls zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 von Einzelpersonen nach näherer Regelung des Protokolls einem Ausschuß zur Prüfung einreichen. Der Ausschuß teilt nach  Art. 5 Abs. 4 des Protokolls seine Auffassungen dem betroffenen Vertragsstaat und der Einzelperson mit. Diese Mitteilung begründet keine subjektiven Rechte und keine Verpflichtungen des Vertragsstaates und hat allenfalls politische Wirkung.

Das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe der Vereinten Nationen (Antifolterkonvention) vom 10. Dezember 1984  bestimmt in Art. 1:

„1. Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck «Folter» jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich grosse körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmasslich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.“

  1. Dieser Artikel lässt alle internationalen Übereinkünfte oder innerstaatlichen Rechtsvorschriften unberührt, die weitergehende Bestimmungen enthalten.“

Artikel 2 bestimmt:

„1. Jeder Vertragsstaat trifft wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmässige, gerichtliche oder sonstige Massnahmen, um Folterungen in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern.

  1. Aussergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.
  2. Eine von einem Vorgesetzten oder einem Träger öffentlicher Gewalt erteilte Weisung darf nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.“

Artikel 4 lautet:

„1. Jeder Vertragsstaat trägt dafür Sorge, dass nach seinem Strafrecht alle Folterhandlungen als Straftaten gelten. Das gleiche gilt für versuchte Folterung und für von irgendeiner Person begangene Handlungen, die eine Mittäterschaft oder Teilnahme an einer Folterung darstellen.

  1. Jeder Vertragsstaat bedroht diese Straftaten mit angemessenen Strafen, welche die Schwere der Tat berücksichtigen.“

Das Verbot der Folter hat somit eine Rechtsgrundlage in den Grundrechten und in den Texten der Menschenrechte. In diesen Rechtsquellen wird aber auch das Recht auf Leben geschützt. Beide Grund- und Menschenrechte sind jedoch nicht absolut, nicht unantastbar, wie das für das Folterverbot auf Grund des materialisierten Menschenrechtssatz praktiziert wird, etwa im Fall Gäfgen/Daschner durch die 27.Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main im Urteil vom 20.12.2004 – 5/27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04), 5-27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04). Pressemitteilung mit Urteilsauszügen, S. 26, 34.

IV

Dem Entführer des Mädchens steht das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zur Seite, das der Polizei, dem Staat also, verbietet, ihn mittels Folter zu veranlassen, das Versteck  seines entführten Opfers preiszugeben, damit dessen Leben gerettet werden kann. Das Entführungsopfer hat aus dem Grundrecht auf Leben ebenfalls des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gegenüber der Polizei, dem Staat, das Recht, das alles unternommen wird, um sein Leben zu retten. Aus dem Grundrecht auf Leben folgt auch die Schutzpflicht des Staates für das Leben, wie aus allen Grundrechten staatliche Schutzpflichten für die grundrechtlichen Schutzgüter erwachsen (K. A. Schachtschneider/P. Wollenschläger, Fallstudie Umweltschutz (FCKW-Verbot), in: K. A. Schachtschneider, Fallstudien zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2003, S. 303 ff.; st. Rspr., etwa: Abtreibung (nasciturus I), BVerfGE 39, 1 ff.; Hanns-Martin Schleyer, Austausch gegen RAF-Gefangene, BVerfGE 46, 160 ff.; Atomkraftwerk Kalkar I, BVerfGE 49, 89 ff.; Atomkraftwerk Mühlheim-Kährlich, BVerfGE 53, 30 ff.; Raketenstationierung, BVerfGE 66, 139 ff.; Lagerung chemischer Waffen (C-Waffen), BVerfGE 77, 170 ff.; Atomkraftwerk Kalkar II, BVerfGE 81, 310 ff.; Abtreibung (nasciturus II, BVerfGE 88, 203 ff.).

Das Grundrecht des Entführers, nicht gefoltert zu werden, muß mißachtet werden, damit das Grundrecht seines Opfers, das der Staat sein Leben schützt, das durch die Entführung gefährdet war und zu seinem Tode geführt hat, verwirklicht werden kann. Die gegenläufigen Grundrechte sind zum Ausgleich zubringen. Das ist Aufgabe der Gesetzgebung. Es gibt aber kein einschlägiges Gesetz, auch weil die Auffassung vorherrscht, daß Folter in jedem Fall, absolut, verboten ist, weil sie die Menschenwürde antastet. Das aber entspricht, wie ausgeführt,  nicht der Verfassungslage. Folglich muß der Polizist als Amtswalter der Exekutive eine Entscheidung treffen, die beide Grundrechte zum bestmöglichen Ausgleich bringt. Beide Grundrechte gehören zur selben Rechtsebene. Es versteht sich, daß das Recht auf Leben des Kindes schwerer wiegt als das Recht des Entführers, keine Schmerzen erleiden zu müssen, weil er das Versteck des Opfers nicht nennen will. Das Leben eines Menschen ist ein Höchstwert (BVerfGE 39, 1 ff., Rn. 149). Schmerzen gehen vorbei. Jedenfalls kosten sie nicht das Leben. Das Kind hat niemanden ein Unrecht zugefügt, der Entführer ist ein Schwerverbrecher. Seine Tat ist erpresserischen Menschenraub, die leichtfertig den Tod des Opfers verursacht hat, weil Lisa ihr Gefängnis, als der giftige Rauch aus dem Ofen strömte, nicht verlassen konnte, strafbar nach § 239 a Abs. 3 mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren.  Es versteht sich, daß bei dem Einsatz der Folter das Verhältnismäßigkeitsprinzip (dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 342 ff.) strikt beachtet werden muß. Die Folter muß geeignet sein, ihren Zweck zu erreichen, das Leben des Kindes zu retten. Das hat der Oberkommissar so eingeschätzt, zu Recht. Das Waterboarding ist vielleicht zu hart. Dem Oberkommissar ist ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Jedenfalls führt diese Folter zu  keinen körperlichen Verletzungen, allenfalls zu einer Verletzung der Psyche. Das ist die Folge von Folter. Darum ist sie an sich eine Grundrechtsverletzung. Die Maßnahme des Oberkommissars wahrt das Übermaßverbot, wenn sie als das mildeste Mittel angesehen wird. Die Folter wurde sofort beendet, als der Entführer das Versteck genannt hatte. Die Folter war somit unter dem Vorbehalt rechtens, daß davon ausgegangen werden kann und muß, daß zur Rettung Lisas eine weniger schmerzhafte und ängstigende Folter als das Waterboarding den Zweck, das Versteck von Lisa zu erfahren, genügt hätte.

Jokob von Metzler war schon ermordet, als der Polizeivizepräsident mit der Folter gedroht hat, sein Leben konnte nicht mehr gerettet werden. Es kommt aber auf die Erkenntnislage des Beamten im Zeitpunkt seiner Handlung an. Das Folteropfer hätte den Irrtum beheben können und müssen. Er war nicht hilflos. Er hätte die Androhung der Folter ohne weiteres verhindern können. Zu diesem Selbstschutz ist er verpflichtet. Der Einsatz der Folter und die Art der Folter mußten notwendig sein. Es durfte kein milderes Mittel geben, um den Zweck, die Lebensrettung, zu erreichen. Die bloße Androhung, Markus Gäfgen den Arm schmerzhaft zu verdrehen, war das mildeste Mittel. Die Folter mußte das rechte Maß einhalten (Übermaßverbot). Die Maßnahme von Wolfgang Daschner ist insofern nicht zu kritisieren.

Wer eine andere Entscheidung befürwortet als sie die Polizisten in beiden Fällen getroffen haben, wie Ferdinand von Schirach, und das Folterverbot verabsolutiert, stärkt nicht den Rechtsstaat, sondern verkennt diesen gröblich, weil er nicht weiß, was Materie des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, ist.

Viele würden davon sprechen, daß der freie Wille eines Menschen nicht gebrochen werden dürfe. Es ist nicht der Wille, sondern die Willkür (Kant, MdS, ed. Weischedel, 1968, Bd. 7, S. 332) die durch die Folter gebrochen wird. Diese tranzendentalphilosophische Begrifflichkeit Kants liegt ausweislich des Sittengesetzes, des kategorischen Imperativs, das die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeine Handlungsfreiheit wie alle Grundrechte begrenzt, dem Grundgesetz zugrunde (K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 2006, S. 83 ff., 256 ff., passim). Diese die Verfassung Deutschlands prägende Dogmatik kann und muß hier nicht vertieft werden. Sie kann in der genannten Schrift studiert werden.

Durch die Folter werde das Folteropfer zum Objekt des Staates gemacht. „Keine Person darf durch die staatliche Gewalt zum Objekt, zu einem Ausbund von Angst vor Schmerzen gemacht werden“, so die 27. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main im Urteil vom 20. 12. 2004, Pressemitteilung, S. 23, in Übernahme der Objektmetapher der Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen (BVerfGE 27, 1 ff., Rnrn. 32, 33; BVerfG NJW 2017, 611, NPD-Urteil, Rn. 539; BVerfGE 115, 118 ff., Rnn. 121). Die Objektformel ist der Kantischen Rechtsphilosophie entlehnt, aber mißverstanden. Wer etwa wegen übergesetzlichen Notstandes getötet wird, wird nicht in seiner Würde beeinträchtigt, wird nicht zum Objekt degradiert, sondern bleibt Subjekt der Notstandshandlung, nämlich als Bürger Gesetzgeber des Handelns. Wenn der Bürger handelt oder andere handeln, ist er Objekt, nämlich dem Gesetz, das der Handelnde anwendet, unterworfen, aber auch den Wirkungen der Handlungen, seien es seine oder die des andern (dazu meine Abhandlung zum Menschenwürdesatz des Grundgesetzes, S. 9 f.).

Der Einsatz der Folter durch den Oberkommissar wie auch und erst recht duch den Polizeivizepräsidenten Daschner war rechtens.

V

§ 136 a StPO regelt verbotene Vernehmungsmethoden und Beweisverwertungsverbote.

„ (1) Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch Mißhandlung, durch Ermüdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verabreichung von Mitteln, durch Quälerei, durch Täuschung oder durch Hypnose. Zwang darf nur angewandt werden, soweit das Strafverfahrensrecht dies zuläßt. Die Drohung mit einer nach seinen Vorschriften unzulässigen Maßnahme und das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils sind verboten.

(2) Maßnahmen, die das Erinnerungsvermögen oder die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten beeinträchtigen, sind nicht gestattet.

(3) Das Verbot der Absätze 1 und 2 gilt ohne Rücksicht auf die Einwilligung des Beschuldigten. Aussagen, die unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen sind, dürfen auch dann nicht verwertet werden, wenn der Beschuldigte der Verwertung zustimmt.“

Die Beschuldigteneigenschaft ist anzunehmen, wenn objektiv ein Angangsverdacht im Sinne des § 152 II StPO besteht und die Ermittlungsbehörden diesen zum Anlass nehmen, das Strafverfahren förmlich gegen die betroffene Person zu führen, mit anderen Worten subjektiv ein Verfolgungswille besteht (BGH, Urt. v. 03.07.2007 – 1 StR 3/07- BGHSt 51, 367, Rnrn. 18 ff.). Förmlichkeit der Aufnahme der Ermittlungen verlangt das Gesetz nicht, aber Äußerlichkeit, Erkennbarkeit.

Es ist zweifelhaft, ob bei der Vernehmung des Entführers schon ein objektiver Anfangsverdacht bestand, aber man kann das annehmen. Ebenso ist zweifelhaft, ob der Oberkommissar schon einen Strafverfolgungswillen hatte. Er wollte das Leben des Mädchens retten, also eine polizeiliche Maßnahme der Gefahrenabwehr durchführen. Aber nach § 18 Abs. 6 des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz – ASOG Bln) in der Fassung vom 11. Oktober 2006 gilt § 136 a StPO für die Polizei entsprechend.

Dennoch ist die Folter entgegen dem Gesetzeswortlaut in dem Entführungsfall nicht verboten. Das Gesetz ist verfassungskonform zu restringieren. Es regelt den Fall der Lebensgefahr für das Entführungsopfer nicht. Selbst wenn es diesen in dem Sinne regeln würde, daß die Folter auch verboten ist, wenn sie das einzige Mittel ist, um das Leben des Opfers zu retten und mit hinreichender Sicherheit anzunehmen erlaubt, daß der Einsatz dieser Maßnahme den bezweckten Erfolg zu erreichen verspricht (absolutes Folterverbot), ist das Verbot der Folter verfassungswidrig, weil es das Grundrecht des Entführungsopfers verletzt, daß sein Leben gerettet wird, wenn das möglich ist, ohne vorrangige Rechte zu verletzen. Der Vorrang der Schutzpflicht des Staates und damit der Polizei in dem erörterten Entführungsfall ist zu 4. dargelegt. Die Verabsolutierung des Folterverbotes, wie das Ferdinand von Schirach mit der herrschenden Lehre vertritt, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar.

Das Landgericht Frankfurt am Main hat in der Strafsache Daschner noch erörtert, ob die Folter, die Wolfgang Daschner dem Entführer Markus Gäfgen angedroht hat, nach § 32 StGB durch Notwehr gerechtfertigt werden (S. 22 f.) oder als Handlung im Notstand nach § 35 StGB (S. 29) oder im übergesetzlichen Notstand (S. 29) entschuldigt werden könne, das aber mit üblichen strafrechtlichen Argumenten abgelehnt. Bestimmt wurde das Landgericht durch die vermeintliche Absolutheit des Art. 1 Abs.1 Satz 1 Grundgesetz. Die Anwendung dieses Konstitutionsprinzips des Grundgesetzes ist der folgenschwere Irrtum der vom Bundesverfassungsgericht zu verantwortenden Rechtspraxis.

In der Strafsache Gäfgen hatte das Landgericht allerdings die dogmatisch nicht recht überzeugende, aber beachtliche Überlegung ausgesprochen:

„Dagegen besteht keine Fernwirkung des Verstoßes gegen §136a StPO in der Weise, dass auch die bei der Aussage bekanntgewordenen Beweismittel nicht benutzt werden dürfen. Die Kammer folgt insoweit der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Mittelmeinung […], wonach eine Abwägung im Einzelfall vorzunehmen und insbesondere zu berücksichtigen ist, ob in besonders grober Weise gegen die Rechtsordnung, namentlich gegen Grundrechtsnormen verstoßen wurde, und dabei auch auf die Schwere der aufzuklärenden Tat abzustellen ist. Die Abwägung der Schwere des Eingriffs in Grundrechte des Angeklagten – im vorliegenden Fall die Androhung körperlicher Gewalt – und der Schwere der ihm vorgeworfenen und aufzuklärenden Tat – vollendete Tötung eines Kindes – lässt die Unverwertbarkeit der infolge der Aussage des Angeklagten bekanntgewordenen Beweismittel – insbesondere das Auffinden des toten Kindes und die Ergebnisse der Obduktion – unverhältnismäßig erscheinen.“

Die Revision gegen das Urteil des Landgerichts hat der Bundesgerichtshof zurückgewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie nicht hinreichend begründet gewesen sei (Beschluss der Dritten Kammer des Zweiten Senats vom 14.12.2004 – 2 BvR 1249/04 – ). Der Verfassungsverstoß, auch der gegen Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürdesatz neben Art. 104 GG und Art. 3 EMRK, vgl. das Urteil des EGMR vom 30. Juni 2008, (Gäfgen vs. Deutschland), zu Rn. 78), durch die Fernwirkung der Androhung der Folter sei nicht vorgetragen worden (vgl. das Urteil des EGMR vom 30. Juni 2008 (Gäfgen vs. Deutschland), zu Rnrn. 36, 37 ff.; zu dem Urteil zu 6.)

VI

Die gleiche Dogmatik, die die Folter nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips zur Rettung von Leben ins Recht setzt, ist richtig für die Verletzungen der verschiedenen Folterverbote der Menschenrechtstexte. Auch diese müssen zugunsten des Rechts auf Leben relativiert werden.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat verschiedentlich Art. 3 EMRK, der, wie zu 3. zitiert, die Folter verbietet, zur Geltung gebracht, u. a. auch in der Entscheidung EGMR, Kammer I, Beschwerdesache Al Nashiri gg. Rumänien, Urteil vom 31.5.2018, Bsw. 33234/12. Dort steht zu den Randnummern 665 und 668:

665)“ […] Auch unter den schwierigsten Umständen wie beim Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität verbietet die Konvention unabhängig vom Verhalten der betroffenen Person auf absolute Weise Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“.

(668) „[…] Art. 1 EMRK […] verlangt in Verbindung mit Art. 3 EMRK von den Staaten Maßnahmen, die sicherstellen sollen, dass in ihrer Hoheitsgewalt befindliche Individuen nicht Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden, einschließlich durch Privatpersonen vorgenommener Misshandlungen. Die staatliche Verantwortlichkeit kann daher zum Tragen kommen, wenn die Behörden es verabsäumen, angemessene Schritte zu setzen, um die Gefahr einer Misshandlung zu vermeiden, von der sie wussten oder wissen hätten müssen“.

Auch auf die Individualbeschwerde des Mörders Gäfgen hin hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Folterverbot des Art. 3 EMRK verabsolutiert und einen verfassungs-gebotenen Ausgleich mit dem gegenläufigen Grundrecht  des Lebensrechts von Jakob von Metzler  nicht vorgenommen. Das Urteil ist mit einer Mehrheit von 11 gegen 6 Richterstimmen ergangen (EGMR Nr. 22978/05 (5. Kammer) – Urteil vom 30. Juni 2008 (Gäfgen vs. Deutschland).

Die Leitsätze des Bearbeiters sind:

„1. Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK kann – unabhängig vom Verhalten des Betroffenen – auch zur Rettung von Leben und selbst im Fall eines Notstands für den gesamten Staat nicht gerechtfertigt werden.

  1. Wird eine Person unmittelbar und realistisch mit Folter bedroht, stellt dies (wie hier im „Fall Gäfgen“) einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK mindestens in Form der unmenschlichen Behandlung dar.
  2. Zu den Bedingungen, in denen im Einzelfall die Opferstellung wegen einer Verletzung des Art. 3 EMRK wegen einer hinreichenden Kompensation durch den verletzenden Vertragsstaat entfallen kann.
  3. Nur die Verwertung von Beweismitteln, die unmittelbar unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK erlangt worden sind, führt stets zur Unfairness des Verfahrens, in dem die Beweise verwertet worden sind.
  4. Der Verwertung von Beweisen, die mittelbar auf Grund eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK erlangt worden sind, steht eine Vermutung entgegen, dass auch diese Verwertung die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zerstört. Zu einem Einzelfall, in dem eine solche Fernwirkung hinsichtlich mittelbar erlangter Beweismittel insbesondere wegen eines späteren, äußerlich von Reue getragenen weiteren Geständnisses nach einer qualifizierten Belehrung verneint worden ist und in dem diese Beweismittel lediglich ergänzend verwertet worden sind“.

Zu Rn. 64 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausgeführt:

„In Artikel 3 der Konvention ist einer der wichtigsten Grundwerte der demokratischen Gesellschaften verankert. Im Unterschied zu den meisten materiellrechtlichen Bestimmungen der Konvention sieht Artikel 3 keine Ausnahmen vor und nach Artikel 15 Absatz 2 darf nicht einmal im Fall eines öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht, von ihm abgewichen werden (siehe Labita ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 26772/95, Rdnr. 119, ECHR 2000-IV, und Selmouni ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25803/94, Rdnr. 95, ECHR 1999-V). Die Konvention enthält ein absolutes Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung, das unabhängig vom Verhalten des Betroffenen gilt (siehe Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 15. November 1996, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996-V, S. 1855, Rdnr. 79; V. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 24888/94, Rdnr. 69, ECHR 1999-IX; und Ramirez Sanchez ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 59450/00, Rdnr. 116, ECHR 2006-IX).“

Zu Rnrn 70, 71 hat der Gerichthof  erklärt:

„Der Gerichtshof möchte in diesem Zusammenhang Folgendes unterstreichen: Angesichts des absoluten Verbots einer gegen Artikel 3 verstoßenden Behandlung, das unabhängig vom Verhalten des Betroffenen und selbst im Fall eines öffentlichen Notstands gilt, der das Leben der Nation – oder erst recht das einer Person – bedroht, gilt das Verbot der Misshandlung einer Person, um Informationen von ihr zu erlangen, ungeachtet der Gründe, aus denen die Behörden eine Aussage erlangen wollen, sei es zur Rettung eines Lebens oder zur Förderung strafrechtlicher Ermittlungen. Ferner ist davon auszugehen, dass die Behandlung des Beschwerdeführers ihm erhebliches seelisches Leiden verursachte, was auch dadurch verdeutlicht wird, dass er – nachdem er sich bis zu diesem Zeitpunkt beharrlich geweigert hatte, wahrheitsgemäße Aussagen zu machen – unter dem Einfluss dieser Behandlung gestand, wo er J. versteckt hatte. Der Gerichthof stellt daher fest, dass die dem Beschwerdeführer angedrohte Behandlung, wenn sie erfolgt wäre, als Folter anzusehen wäre. Die Befragung dauerte jedoch nur etwa 10 Minuten und, wie in dem Strafverfahren gegen die Polizeibeamten festgestellt wurde (siehe Rdnr. 46), fand sie in einer sehr angespannten und emotional aufgeladenen Atmosphäre statt, was darauf zurückzuführen war, dass die völlig erschöpften und unter hohem Druck stehenden Polizeibeamten glaubten, sie hätten nur ein paar Stunden, um J.s Leben zu retten; diese Merkmale können als strafmildernde Faktoren angesehen werden (vgl. Egmez, a.a.O., Rdnr. 78, und Krastanov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 50222/99, Rdnr. 53, 30. September 2004). Weiterhin wurden die Drohungen mit Misshandlung nicht umgesetzt und es wurde nicht dargetan, dass sie ernsthafte Langzeitfolgen für die Gesundheit des Beschwerdeführers hatten“.

„Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der Beschwerdeführer während der Befragung durch E. am 1. Oktober 2002 einer nach Artikel 3 der Konvention verbotenen unmenschlichen Behandlung ausgesetzt war“.

Ich halte es für möglich, daß diese erzieherische Judikatur ihren Grund darin findet, daß abgesehen von dem Texten der Menschenrechte, die in Jahren nach rechtlosen Zeiten verfaßt wurden, die Richter die Gewißheit hatten, daß kaum ein Staat sich an diese heeren Bekenntnisse halten wird, zumal deren Verletzung zwar mit einer für einen Staat geringen „gerechten Entschädigung“ des Opfers sanktioniert, aber die Einhaltung der Menschenrechte nicht durchsetzbar ist. Der Menschenrechtsgerichtshof hat keine Soldaten.

Die Antifolterkonvention der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die sich in der Präambel auf das Folterverbot in Art. 5 AEMR und Art. 7 IPbpR beruft, ist ein stumpfes Schwert. Artikel 2 bis 4 legen fest, dass jeder Vertragsstaat dafür sorgt, Folter in seinem Hoheitsgebiet zu verhindern und unter Strafe zu stellen.

Amnesty International: „Obwohl das Verbot der Folter ein Menschenrecht ist, das absolut und ohne Ausnahme gilt, wird heute in den meisten Ländern gefoltert.“

VII

Um die rechtliche Unhaltbarkeit eines absoluten Folterverbotes auch den Moralisten klarzumachen, die meinen, das Rechtsstaatsprinzip auf ihrer Seite zu haben, sei ein durchaus nicht irrealer und oft diskutierter Fall angeführt: Ein Terrorist ist befähigt, aggressive Viren in Berlin aususetzen, das unausweichlich in kürzester Zeit alle Menschen in Berlin töten werden. Die einzige Möglichkeit, dieses Verbrechen zu verhindern, ist durch Folter zu erfahren, wo er die Viren lagert, um sie unschädlich machen zu können. Man muß nicht lange rätseln, daß der Staat verpflichtet ist, den Massenmord zu verhindern, auch mittels des Einsatzes der Folter. Nur dann ist der Staat ein Staat des Rechts, ein Rechtsstaat. Die wesentliche, die den Staat überhaupt rechtfertigende Aufgabe und Pflicht des Staates ist es, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleiten. Dieser Leviathan, den Thomas Hobbes gelehrt hat, ist die Grundlage des Modernen Staates. Das Leben des Kindes rechtfertigt die gleiche Maßnahme. Jede andere Auffassung ist rechtsferne Schwärmerei, aber keine Rechtsdogmatik.

Berlin, 15. Januar 2021

Karl Albrecht Schachtschneider