Kants Verfassung der Freiheit
Kants Verfassung der Freiheit
Das heutige Prinzip des Rechts
Karl Albrecht Schachtschneider
2012/2025
Berlin
„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 18
I. Vier Texte Kants, drei Texte des Rechts
1a) „Mithin gibt es in Hinsicht auf dieselbe (sc. „die bürgerliche Verfassung“) und ihre Stiftung ein wirkliches Rechtsgesetz der Natur, dem alle äußere Erwerbung unterworfen ist“ (MdS, 374 ).
b) „Der Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ (MdS, S. 431).
c) „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (MdS, 337).
d) „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“ (MdS, 345).
2 a) Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
b) Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes von 1949:
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
c) Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes:
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“
II. Grundlagen der Freiheitsverfassung Kants
1. Ethik
Ethik ist die Lehre vom Sollen. Kant versteht die Ethik als die Lehre von der Freiheit (GzMdS, 11), weil die Freiheit des Menschen als einem Vernunftwesen ein Sollen ist. Kant benutzt den Begriff Ethik in der Tugendlehre (ethica) aber auch als Gegenbegriff zum ius, zur Rechtslehre (MdS, 508).
Kant schließt an die Naturrechtslehre an, wie die Zitate zu 1 a und d belegen. Die Würde ist die Menschheit des Menschen und damit die Autonomie des Willens (GzMdS., 87 ff.; KpV, 218), die Freiheit, die mit dem Menschen geboren ist (KrV, 335 ff, 385 f., 492 ff.). Darum gibt es ein naturgesetzliches Recht auf eine bürgerliche Verfassung (MdS, 374; dazu FridR, 44 ff.). Die Freiheit, auf der alles Recht gründet und welche durch Gesetze des Rechts Wirklichkeit findet, ist eine Idee (KrV, 321 ff., 327 ff., 426 ff., 492 ff., 671 ff.; GzMdS, 82 ff.; KpV, 217 ff., 230 ff.; dazu FridR, 36 ff.) und steht jedem Menschen kraft seiner Menschheit zu (MdS, 345). Das Naturrecht war und ist das ius divinum, das Recht Gottes, und hat dadurch seine Jahrhunderte befriedende Kraft. Kant war Deist, nicht Theist, aber seine platonische Ideenlehre ist eine aufklärerische Fortentwicklung des katholischen Naturrechts. Auch das Naturrecht muß nicht anders als die Ideen der Freiheit und des Rechts von den Menschen erkannt und anerkannt werden. Der Geltungsgrund ist im religiösen, christlichen Staat, ein anderer als im säkularisierten, republikanischen, nämlich einerseits der Wille Gottes, repräsentiert durch Papst und Fürst, Thron und Altar, andererseits der Wille der Bürger, des Volkes. Der Wille ist im Naturrecht und in Kants Rechtsphilosophie transzendental. (MdS, 317 f.). Die Menschenrechte, die auf die Würde des Menschen gestellt sind, folgen der Erfahrung der Menschen in ihrer Menschheit. Sie sind Naturrecht. Die Völker der Vereinten Nationen „bekräftigen erneut“ in der Präambel ihrer Charta ihren „Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein“. Glauben ist Anerkennen der transzendentalen Natur des Menschen und der Völker. Demgemäß „anerkennt“ die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in der Präambel die „angeborene Würde und die gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“ und spricht Art. 1, wie zu 2 a zitiert, davon, daß „alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind“. Das Deutsche Volk hat sich nach der Präambel kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt das Grundgesetz „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben und sich mit der Berufung auf Gott dem Naturrecht verpflichtet.
2. Freiheit
a) Republikanische Freiheit
„Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei“ (GzMdS, 91). Angesichts der Determiniertheit des Menschen, welche durch die Hirnforschung zunehmend bestätigt wird, weiß die Transzendentalphilosophie nur um die Idee der Freiheit. Aber: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei, …“ (GzMdS, 83). Die Freiheit ist praktisch die Fähigkeit des Menschen zu handeln, dessen Spontaneität. Trotz aller Determiniertheit menschlichen Seins vermag der Mensch der Idee der Freiheit nach zu handeln, d.h., die Welt nach seiner Willkür zu gestalten. Die Idee der Freiheit ist ein notwendiger Standpunkt der Ethik. Die Hirnforschung, welche empirisch den freien Willen des Menschen in Frage stellt, bestätigt den kantianischen Dualismus der dritten Antinomie, die Differenz von Sein und Sollen. Diese dritte Antinomie (KrV, 426 ff.; KpV, 242 ff.) ist kein existentieller Widerspruch, sondern ein Unterschied des Standpunktes der Erkenntnis. Das Ding an sich kennen wir nicht (KrV, 30 f., 75 ff.; GzMdS, 87). Die Freiheit erweist sich im Faktum des Sollens (KrV, 426 ff., 495 ff., 674 ff.; GzMdS, 82 ff., 89 ff., 94 ff.; MdS, 326 ff., 347, 361). „Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff, …“ (MdS, 326).
Ohne die Freiheit ist Recht nicht denkbar. Alles Recht beruht auf Freiheit, nicht auf Herrschaft. Herrschaft kann Ordnung schaffen, nicht aber eine Rechtsordnung (Rprp, 71 ff.; FridR, 115 ff.).
Die äußere Freiheit ist die Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür (MdS, 345). Die innere Freiheit ist die Sittlichkeit. Das Gesetz der Freiheit als der Autonomie des Willens (GzMdS, 63 ff.; KpV, 144 ff.) ist das Sittengesetz, der kategorische Imperativ (GzMdS, 43 ff.; KpV, 142 ff.). Es gibt keine innere Freiheit ohne äußere Freiheit, aber die äußere Freiheit findet ohne innere Freiheit, d.h. Sittlichkeit und Moralität, keine Wirklichkeit (FridR, 67 ff., 83 ff.). Freiheit verwirklicht sich durch allgemeine Gesetzlichkeit, Rechtlichkeit (FridR, 49 ff.). Nur wer unter dem eigenen Gesetz lebt, das als Gesetz wegen der Allgemeinheit und Notwendigkeit von Gesetzen zugleich ein Gesetz all derer sein muß, die zusammen leben, ist frei, nämlich unabhängig von eines anderen nötigender Willkür (FridR, 67 ff., 274 ff.). „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; …“ (MdS, 332), so daß nur der allgemeine Wille gesetzgebend sein kann. Das folgt aus der „… Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ (GzMdS, 67). Weil Freiheit die Unabhängigkeit von der Natur des Menschen ist, nämlich eine Kategorie der Vernunft, ist der Wille aus sich selbst heraus Gesetz und somit Freiheit nichts anderes als die Autonomie des Willens (GzMdS, 74 ff., 81 ff.).
b) Liberalistische Freiheit
Im Gegensatz zu diesem republikanischen Begriff der Freiheit als Autonomie des Willens steht der liberalistische Begriff der Freiheit, der bestimmte, meist grundrechtlich geschützte, Freiheiten (Grundrechte) umfaßt, die der Untertan der Obrigkeit entgegenhalten kann, um die Obrigkeit konstitutionalistisch einzuschränken (dazu Rprp, 441 ff., FridR, 343 ff.). Das sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat (BVerfGE 7, 198 (204)). Der Mensch bleibt nach der liberalistischen Konzeption Teil einer vom Staat zu unterscheidenden Gesellschaft (kritisch FridR, 207 ff.). Er wird zwar Bürger genannt, ist aber Bürger allenfalls insoweit, als er durch Wahlen die Ausübung der Staatsgewalt legitimiert, wenn nicht Abstimmungen der Bürger ermöglicht sind. Die repräsentative Ausübung der Staatsgewalt wird vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 2, 1 (12 f.); 83, 37 (52); 83, 60 (72); 123, 267, Abs. 213, 217 ff., 250, 263, 268, 270, 272, 280, 294) und fast der gesamten Staatsrechtslehre als Herrschaft begriffen (dazu Rprp, 71 ff.; FridR, 115 ff.). Weil Herrschaft und Freiheit unvereinbar sind, bleibt ein liberalistisch begriffener Bürger Untertan. Die dualistische Freiheitslehre kennt neben der politischen Freiheit im republikanischen Sinne eben diese liberalistische Freiheit (Rprp, 501 ff; FridR, 343 ff..). Die Praxis in Deutschland hat die politische Freiheit als fundamentales Recht der Menschen bisher nicht anerkannt, sondern nur in Ausschnitten akzeptiert, insbesondere im Recht der Meinungsäußerung (etwa BVerfGE 5, 85 (134, 199, 206 f.); 69, 315 (342 ff.); st. Rspr.; Rprp, 588 ff.) und im Recht der Volksvertretung (insb. BVerfGE 89, 155 (171 ff.), Maastricht-Urteil; 123, 267, (353 ff.), Abs. 241 f., Lissabon-Urteil). Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat eine politische Freiheit als Grundrecht explizit zurückgewiesen (BayVerfGH, BayVBl. 1999, 719 ff. (726)),
3. Sittlichkeit und Moralität
a) Sittlichkeit
Sittlichkeit ist die praktische Vernunft, die unparteiliche Sachlichkeit (dazu FridR, S. 83 ff., 256 ff., 420 ff.). In einem Gemeinwesen, dessen politische Grundlage die Idee der Freiheit ist, also der Gleichheit aller Menschen in der Freiheit, ist diese Sittlichkeit die Logik der Ethik und damit des Rechtsprinzips. Das Gesetz der Sittlichkeit ist das Sittengesetz, das Gesetz des Sollens (KrV, 701). Das Sittengesetz hat drei Formeln, nämlich:
die deontische Formel: „…: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GzMdS, 51), oder: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (KpV, 140),
die Naturgesetzformel: „…: Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“ (GzMdS, 51),
die Selbstzweckformel: „…: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person jedes andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (GzMdS, 61).
„Maxime ist das subjektive Prinzip des Wollens; das objektive Prinzip (d. i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) ist das praktische Gesetz“ (GzMdS, 27), oder: “Maxime aber ist das subjektive Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will)“ (MdS, 332).
Das Bundesverfassungsgericht hat sich die Selbstzweckformel zu eigen gemacht und mit dieser die Menschenwürde interpretiert, nämlich: „…, der einzelne soll nicht Objekt der richterlichen Entscheidung sein, …“ (BVerfGE 9, 89 (95)), oder: „Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen“ (BVerfGE 27, 1 (6), Mikrozensus). Im Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe (BVerfGE 45, 187 (228)) hat das Gericht hinzugefügt: „Der Satz `der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben` gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete; denn die unverletzbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.“ Das Gericht hat in BVerfGE 115, 118 ff. (1 BvR 357/05 vom 15. Februar 2006) in Leitsatz 3 festgestellt, daß „die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, als mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar ist, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden“. In Abs. 121 hat es ausgeführt: „Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <227 f.>), schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>); 45, 187 <228>; 96, 375 <399>). Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 87, 209 <228>; 96, 375 <399>), indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 109, 279 <312 f.>“.
Das Sittengesetz ist als Ethos des gemeinsamen Lebens in gleicher Freiheit das Prinzip der Brüderlichkeit, also das der Solidarität, nämlich das Sozialprinzip (Rprp, 234 ff.; FridR, S. 636 ff.). Das Sittengesetz folgt gerade darin der Logik der allgemeinen Freiheit. Die Sittlichkeit bedarf der Materialisierung in Gesetzen, die nur Gesetze des Rechts (Rechtsgesetze) sind, wenn sie praktisch vernünftig, nämlich unparteilich und sachlich, sind, also dem kategorischen Imperativ genügen.
Das Sittengesetz als der kategorische Imperativ ist die universalisierte Fassung der biblischen lex aurea (GzMdS, 25; KpV, 113; MdS, 586 ff.). Es ist die politische Formulierung des ethischen, zumal christlichen, Liebesprinzips: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr“ (3. Mose 19,18). Auch darin kommt die Einheit von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zum Ausdruck.
b) Moralität
Die Moral besteht kantianisch nicht aus materialen Vorschriften, wie sie die guten Sitten als Teil der Rechtsordnung enthalten , auch nicht aus Vorschriften der kirchlichen Lebensordnung, deren Verbindlichkeit religiös fundiert ist, oder gar in der (sogenannte) political correctness, deren Verbindlichkeit dem Zwang der Medien erwächst. Das wäre der von Kant ebenso wie von der Weltrechtsordnung und dem Grundgesetz zurück gewiesene materiale Moralismus (ZeF, 233). Vielmehr ist die Moral ein formales Prinzip, welches keine materialen Vorschriften in sich trägt. Moral bezeichnet die Triebfeder des guten Handelns. Moral bewirkt den Selbstzwang (MdS, 511 ff., 525 ff.; Rprp, 130 ff., 279 ff., FridR, S. 83 ff.), dessen Imperativ lautet: „Handle pflichtmäßig, aus Pflicht“ (MdS, 521, 523). Die Pflichten folgen entweder aus den Gesetzen des Rechts, sind also Rechtspflichten, oder aus den Gesetzen der Tugend und sind damit Tugendpflichten. Die Rechtspflichten sind äußerlich und damit erzwingbar (MdS, 511 ff., 525 ff.); denn „das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden“ (MdS, 338 f., 527). Die Tugendpflichten sind material; denn sie machen Zwecke verbindlich. Tugendpflichten sind aber nicht erzwingbar, sondern unterliegen dem Selbstzwang und sind darum bloß innerlich (MdS, 508 ff.). Legalität ist nach Kant sowohl die Beachtung der Rechtspflichten als auch der Tugendpflichten (MdS, 318 f., 323 ff.). Die Moral verpflichtet auch zur Achtung des ius, der Rechtspflichten also, nicht nur, den Tugendpflichten zu folgen (MdS, 512). Moralität schließt somit Legalität ein. Tugendpflichten können Rechtspflichten nicht aufheben. Keinesfalls rechtfertigt die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG einen Rechtsverstoß (Rprp, 420; unklar BVerfGE 12, 45 (55)).
Kant benutzt das Wort Moral verschiedentlich auch für das Wort Sittlichkeit und auch für die Worte Recht und Rechtslehre (etwa ZeF, 248 ff.). Im Folgenden wird es nur für das, wenn man so will, Pflichtgefühl im Sinne des guten Willens benutzt.
Moral gebietet nicht nur Legalität des Gesetzesvollzugs, sondern auch und vor allem die Beachtung des Sittengesetzes bei der Gesetzgebung. Zum Handeln gehört die Gesetzgebung für die Maximen des Handelns, die Maximenbildung selbst, welche die Zwecksetzung einschließt, und schließlich der Zweckvollzug (FridR, S. 311 ff.). Gesetze schaffen nur Recht, wenn sie sittlich sind. Sie können nur sittlich sein, wenn der Gesetzgeber (das ist das ganze Volk) sich bei der Gesetzgebung vom Sittengesetz leiten läßt. Die gesetzgeberische Moral ist der gute Wille des Gesetzgebers. „Von dem Willen gehen die Gesetze aus“ (MdS, 332). Er ist ein guter Wille, wenn er den kategorischen Imperativ achtet. Die Republik braucht den „moralischen Politiker, nicht den politischen Moralisten“ (ZeF, 233).
4. Gemeinwesen, Staat, Gesellschaft, Bürgerschaft
a) Gemeinwesen, Republik, Staat
Das Gemeinwesen ist als Staat im weiteren Sinne (Rprp, 100; PdR, 52) eine, die wichtigste res publica, die Republik. Eine res publica ist jede Veranstaltung, welche dem öffentlichen Wohl dient, aber die staatliche Republik, die demokratisch sein muß (Rprp, 14 ff.), ist die Republik im meist gebrauchten Sinne des Wortes. Für diese gebiet-liche Republik gilt der Satz Ciceros:
„Est igitur …res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congreatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus“ (De re publica, Liber primus, 25).
Eine als Rechtsgemeinschaft der Bürger, als „iuris societas civium“ (Cicero, Liber primus, 32), ein als „civitas“, als Staat verfaßtes Volk ist eine Republik. Kant definiert den Staat, die „civitas“, ähnlich Cicero, als die „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ (MdS, 431).
Die Republik Kants und des Grundgesetzes steht in der Tradition der κοινωνία πολιτική, der bürgerlichen Gesellschaft im aristotelischen, jedenfalls vorhegelschen Sinne .
Weil das Handeln der Menschen die Welt verändert und damit Einfluß auf alle Menschen hat, ist die Welt ein Gemeinwesen, das einer alle befriedenden Rechtsordnung bedarf, die bestmöglich als Republik der Republiken gestaltet ist (PdR, 50 ff., 66 ff.), als „Föderalism freier Staaten“ (ZeF, 208 ff.). Als Rechtsgemeinschaft muß ein Weltstaat größtmöglich föderalisiert und kommunalisiert sein, um freiheitlich, nämlich demokratisch zu sein. Vor allem bedarf es wegen der Vielheit der Völker der Vielheit der Staaten.
b) Volk
„Volk“ ist „eine Menge von Menschen, …, die im wechselseitigem Einflusse gegen einander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden“ (MdS, 429). In der Republik ist das Volk die Bürgerschaft als die Vielheit der Bürger. Bürger ist, wer zum Staat, dem Gemeinwesen, gehört, der Staatsangehörige, aber jeder Mensch, der dauerhaft in einem Gemeinwesen lebt, muß Bürger sein, weil sonst seine Würde, nämlich seine Freiheit als Ausdruck des sittlichen Willens, verletzt ist (Rprp, 207 ff., 1201 ff.).
Volk ist ein Begriff der Ethik, also des Rechts, genauer: des Staatsrechts. Volk ist nur die Ethnie, wenn das Staatsrecht das Volk ethnisch definiert. Wenn der Volksbegriff menschheitlich verfaßt sein soll, muß er dem weltrechtlichen Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit genügen. Zum Volk gehören danach grundsätzlich alle Menschen, die auf einem Gebiet wohnen. Diesen Volksbegriff gebietet das Friedensprinzip. Für den Volksbegriff gibt es nur ein Kriterium, nämlich die Gebietszugehörigkeit eines Menschen (PdR, 59 f.). Die territoriale Rechtsgemeinschaft muß prinzipiell alle Menschen erfassen, die ein Gebiet bewohnen, um mit dem Recht den Frieden zu gewährleisten. Die Einwanderung vieler Menschen bedarf freilich der Grundlage im Verfassungsgesetz, weil die Souveränität des Volkes es andernfalls verbietet, das Volk substantiell zu verändern (Die Souveränität Deutschlands, SD, 2012, 136 ff.).
c) Staat
aa) Staat im existentiellen Sinne
Staatsrechtlich ist der Staat im engeren Sinne die Organisation eines Staates im weiteren Sinne, einer Republik, zur Verwirklichung des guten Lebens aller in allgemeiner Freiheit als dem Rechtszweck (Rprp, 519 ff., PdR, 55 ff., 58 f., SD, 40 ff., 185 ff.). Der Staat handelt, soweit nicht das Volk die Staatsgewalt selbst durch Wahlen und Abstimmungen ausübt, durch Organe der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung, welche die Staatsgewalt des Volkes namens des Volkes ausüben (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Weil der Staat um des Friedens willen das Recht durchsetzen können, also die suprema potestas, Souveränität, beanspruchen muß (Rprp, 545 ff.; SD, 49 ff., 129 ff.), kann es auf einem Territorium nur einen Staat im existentiellen Sinne geben (PdR, 55 ff., 58 f.). Die Gebietshoheit ist nichts anderes als die Staatsgewalt des Volkes (PdR, 59 f., 74 f.), seine Souveränität oder die Freiheit der Bürger. Zur existentiellen Staatlichkeit und zur Souveränität gehören die Verfassungshoheit, der pouvoir constituant, die wesentliche Gesetzgebungs-, Vollzugs- und Rechtsprechungshoheit, aber auch die Wirtschafts-, die Sozial- und auch die Währungshoheit, sowie die Finanzhoheit, die Verteidigungshoheit u.a.m. (SD, 90 ff., 129 ff., 147 ff) . Die Souveränität umfaßt das gesamte gemeinsame Leben des Volkes und verwirklicht sich durch die Rechtlichkeit des gemeinsamen Lebens nach innen und außen. Jedes Unrecht im Lande oder gegenüber dem Land ist eine Verletzung der Souveränität des Volkes (SD, 107 ff.).
bb) Integrierte Staatlichkeit der Europäischen Union
In die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind die Organe der Europäischen Union (Europäisches Parlament, Kommission, Rat, Gerichtshof, Rechnungshof, Europäische Zentralbank (Art. 13 EUV)), integriert. Sie gehören zur einzelstaatlichen Organisation und stehen dieser nicht als eigene Hoheitsgewalt gegenüber (PdR, 66 ff.). Zu dieser Dogmatik zwingt das demokratische Prinzip, weil alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2, S. 1 GG). Die Staatsgewalt der mitgliedstaatlichen Völker wird, soweit der Europäischen Union Hoheitsrechte übertragen sind (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG), gemeinschaftlich ausgeübt. Das Bundesverfassungsgericht spricht vom Staatenverbund (BVerfGE 89, 155 (184,186, 188 ff.); 123, 267, Abs., Abs. 229, 233, 294), in dem die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ (BVerfGE 89, 155 (190, 199) bleiben, also die Souveränität (BVerfGE 89,155, (189); 123, 267, Absätze 298 f., 351 u.ö.)) wahren. Die Völker übertragen nicht ihre Souveränität, sie müßten sonst die Freiheit ihrer Bürger übertragen. Sie übertragen nur begrenzte Hoheitsrechte zwecks gemeinsamer Ausübung derselben.
Die politische Klasse hat die Europäische Union funktional zu einem Bundesstaat entwickelt, der freilich mangels eines Unionsvolkes weder legitimiert noch gar souverän ist. Der völkerrechtliche Verfassungsvertrag ist gescheitert. Der Lissabon-Vertrag ersetzt diesen funktional, aber die Völker wurden nicht gefragt, ob sie ihre Souveränität einschränken wollen. Das Recht der Mitgliedstaaten, die Union zu verlassen, ist respektiert (Art. 59 EUV). Mit diesem Vertrag müssen die Völker der Europäischen Union ihre existentielle Staatlichkeit mit einer solchen der Europäischen Union teilen, verfassungswidrig und souveränitätswidrig (SD, 201 ff.) . Dieser europäische Staat hat ein unüberwindliches demokratisches Defizit (SD, 206 ff.) . Zumindest bedarf die Staatswerdung der Union der Zustimmung der Völker, die ihre existentielle Staatlichkeit weitgehend aufgeben und ihre Souveränität mit der Union teilen sollen, in jeweils unmittelbar demokratischen Akten (BVerfGE 123,267, Abs. 228) jedes Volk für sich, und weiterhin eines konstitutionellen Aktes der Unionsbürger als pouvoir constituant als dem durch diesen Akt verfaßten Volk der Europäer, ebenfalls durch Referendum. Die Länder Deutschlands, selbst souveräne Staaten, müssen eigens durch Volksentscheide zustimmen (SD, 46 f., 201 ff.).
cc) Kleine Einheiten als Staaten und die globale Rechtsgemeinschaft
Die Welt ist in Staaten geteilt, die wegen der Einzigkeit der jeweiligen Staatsgewalt territorial bestimmt sind. Das Völkerrecht definiert den Staat als Einheit von Gebiet, Volk und Gewalt (Drei-Elemente-Lehre , vgl. PdR, 60). Das globale Leben gebietet eine globale Rechtsordnung. Die globale Rechtsgemeinschaft kann aber kein Weltstaat sein, wenn die Republikanität der Lebensverhältnisse gewahrt oder ermöglicht werden soll; denn Republikanität gibt es nur in kleinen Einheiten, weil nur kleine Einheiten im freiheitlichen Sinne demokratisch und dadurch Rechtsstaaten sein können (PdR, 45, 58, 171, 229). Ein staatliches Gemeinwesen als Republik ist wegen des Prinzips der kleinen Einheit auf ein begrenztes Gebiet beschränkt (PdR, 59 f.), welches das gemeinsame Leben all der Menschen gestaltet, die auf dem Gebiet leben, aber offen ist für die Welt und verpflichtet ist, die gemeinsame (globale) Welt nach Prinzipien des Rechts, aber vor allem den Menschenrechten gemäß, zu ordnen. Man spricht von der offenen Staatlichkeit oder Integrations- und Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.
Die globale Rechtsgemeinschaft bedarf der völkerrechtlichen Verträge und der völkerrechtlich begründeten Republiken und auch der Republik der Republiken, des „Föderalism freier Staaten“ (ZeF, 208 ff.; MdS, 466 ff.; PdR, 45 f., 60 ff.). Dahin entwickeln sich die Vereinten Nationen, wenn deren Entwicklung nicht den Interessen der „einzigen Weltmacht“ geopfert wird. Die Vereinten Nationen verfügen über die Mittel, um den Weltfrieden zu sichern, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika die notwendige Unterstützung geben, und können ihre Mittel verstärken. Erfolg verspricht allein der allmähliche Wandel aller Staaten dieser Welt in Republiken, das Friedens- und folglich Rechtsprogramm der Weltgemeinschaft (ZeF, 204 ff.). Fordernde und fördernde Hilfe bei der republikanischen Entwicklung der Völker und Staaten ist gerechtfertigt und geboten, nicht aber der Angriffskrieg, der das Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta ebenso verletzt (PdR, 126 f. wie er das Gebot der Nichteinmischung des Art. 1 Ziff. 2 dieser Charta (Selbstbestimmungsrecht der Völker) mißachtet. Geopolitisch veranlaßte Angriffskriege können auch nicht als humanitäre Intervention oder (vermeintliche) Demokratisierungshilfe gerechtfertigt werden.
Jede Staatlichkeit rechtfertigt sich allein aus dem Freiheitsprinzip, das wegen der Allgemeinheit der Freiheit mit dem republikanisch, also freiheitlich, verstandenen Demokratieprinzip (Rprp, 14 ff.; PdR, 37 ff.; SD, 101 ff.) verbunden ist. Demokratie als Form des Politischen, wenn man so will, als Staats- und Regierungsform, kann nur in kleinen Einheiten verwirklicht werden. Große Reiche, wie es etwa die Europäische Union als existentieller Staat wäre und sein soll, sind nicht demokratiefähig, schon gar nicht wenn sie viele Völker postnational in eine Bevölkerung umwandeln, und verletzen darum das Freiheitsprinzip. Die Organisation des Weltfriedens durch Staatenverbünde als Republiken von Republiken oder auch als Republik von Republiken, d.h. mehrfach gestuft, bestmöglich föderalisiert, ist ein demokratisches Postulat aus dem Freiheitsprinzip . Ein nicht durch existentielle, souveräne Staaten föderalisierter Weltstaat wäre freiheitswidrig, also mangels territorialer Gewaltenteilung Despotie.
d) Gesellschaft, Bürgerschaft, Zivilgesellschaft
aa) Gesellschaft
Gesellschaft ist (abgesehen von den privatrechtlichen Gesellschaften wie den Aktiengesellschaften) ein soziologischer Begriff, der als solcher auch den Staat im weiteren und engeren Sinne umfaßt und vielfache Facetten hat . Als politischer Begriff war die Gesellschaft im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts als „System der Bedürfnisse“ der hegelianische (Rechtsphilosophie, §§ 182 ff.) Gegensatz zum Staat als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (§§ 257 ff.) und erfaßte die Bürger als Privatpersonen, die Bourgeoisie, im Gegensatz zu den Bürgern als Untertanen der staatlichen Obrigkeit . Der Konstitutionalismus hat in der Logik von monarchischem Prinzip und der liberalistischen Freiheiten Staat und Gesellschaft getrennt (Rprp, 159 ff.; FridR, 207 ff.). Nach dem monarchischen Prinzip hatte der Fürst die Staatsgewalt inne. Hegel hat die Staatssouveränität im Monarchen personifiziert (Rechtsphilosophie, § 279). Dieser durfte im Konstitutionalismus die Souveränität aber nicht zu Lasten von Freiheit und Eigentum der Bürger nutzen, wenn deren Vertretung, die landständischen Parlamente, dem nicht durch Gesetz zugestimmt hatten (konstitutioneller Gesetzesvorbehalt ).
bb) Bürger und Bürgerschaft
In einer Republik kann der Begriff der Gesellschaft keine politische Funktion beanspruchen, weil Träger des Staates die Bürger in ihrer Freiheit sind. Die Bürger sind der Verfassung nach nicht Untertan der Obrigkeit, sondern als Gesamtheit, nämlich als Bürgerschaft, als Staat im weiteren Sinne, die Republik oder der Bürgerstaat (Rprp, 14 ff.), der Souverän (SD, 101 ff.). Die Bürger sind die zentralen Figuren des Staates (Rprp, 211 ff.; FridR, 606 ff., SD, 34 ff., 101 ff.)). Die Gesetze sind der Wille der Bürger (FridR, 274 ff., 440 ff.; PdR, 94 ff., 191 ff.), und die Bürger verwirklichen auch im privaten Handeln funktional die Staatlichkeit, das Gemeinwohl nämlich, durch die Legalität ihres Handelns (FridR, 449 ff.). Die Bürger handeln funktional staatlich, soweit sie, ihrer Pflicht gemäß, ihr Handeln an den Gesetzen ausrichten, ohne institutionell zum Staat im engeren Sinne zu gehören. Als Gesetzgeber, sei es unmittelbar oder mittelbar, sind die Bürger Amtswalter des Staates im engeren Sinne. Die Bürger sind funktional privat, soweit sie (im Rahmen der Gesetze) alleinbestimmt ihr Glück suchen (Rprp, 370 ff.; FridR, 449 ff.). Zur Bürgerlichkeit der Bürger, also zur Republikanität, gehört die Sittlichkeit der privaten Maximen. In der Republik ist der Bürger immer citoyen. Das bürgerliche Ethos in Deutschland ist schwach. Die demokratischen Institutionen zumal des Parteienstaates stützen die Bürgerlichkeit der Bürger nicht und der Ökonomismus mit seiner Wettbewerbsideologie scheint die egoistische Interessenverfolgung ins Recht zu setzen .
cc) Zivilgesellschaft
Die Zivilgesellschaft, ein neuerdings viel benutztes demokratieabgewandtes Wort, meint Menschen und nationale und international organisierte Gruppen, die, ohne in die Ausübung der Staatsgewalt im engeren Sinne integriert zu sein, auf die Politik vor allem mit dem Mittel der Meinungsäußerung Einfluß nehmen, etwa und vor allem die Nicht-Regie¬rungsorganisationen , meint aber nicht etwa die „Privatrechtsgesellschaft“ im Sinne von Franz Böhm , auch nicht die konstitutionalistisch begriffene bürgerliche Gesellschaft , schon gar nicht die Bevölkerung oder das Volk als die Bürgerschaft.
5. Verfassung, Verfassungsgesetz, Gesetz
a) Verfassung
Die Verfassung des Gemeinwesens ist die Menschheit des Menschen, nämlich die Freiheit des Menschen und somit die Gleichheit aller Menschen in der Freiheit (PdR, 86 ff., auch zum Folgenden). In Gleichheit und Freiheit können die Menschen nur brüderlich als der Alternative zur freiheitswidrigen Herrschaft leben, nämlich in der Solidarität, welche den anderen Menschen in seiner Menschheit, d. h. als Vernunftwesen, anerkennt. Die wesentliche Materialisierung findet die Verfassung der Menschheit des Menschen in den Menschenrechten und damit in den Grundrechten. Diese sind Materialisierungen der Sittlichkeit, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte durchgesetzt haben. Ein Meilenstein waren der Dekalog des Berges Sinai, die Declaration des Droits du l´Homme et du Citoyen 1789 und die Universal Declaration of Human Rights 1948. Das Leitprinzip der Menschheit des Menschen ist die praktische Vernunft, deren Gesetz der kategorische Imperativ ist. Art. 2 Abs. 1 GG hat das im Text zum Ausdruck gebracht. Die menschheitliche Verfassung hat weltrechtlichen Charakter . Demgemäß „bekennt sich das Deutsche Volk“ in Art. 1 Abs. 2 GG „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ und „darf“ nach Art. 19 Abs. 2 GG „in keinem Fall ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“. Der Wesensgehalt eines Grundrechts ist der Menschenrechtsgehalt (Rprp, 827; i.d.S. BVerfGE 80, 367 (373 f.). Im Sinne dieser menschheitlichen Verfassung soll jeder Staat Verfassungsstaat, also Republik, sein.
b) Verfassungsgesetz
Die menschheitliche Verfassung wird in den jeweiligen Verfassungsgesetzen der Staaten materialisiert, in Deutschland durch das Grundgesetz. Ein Verfassungsstaat bedarf des Verfassungsgesetzes, in dem die Verwirklichung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geordnet und gesichert wird, vor allem durch Inkorporierung der Menschenrechte als Grundrechte, durch Regelung der Aufgaben und Befugnisse der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung, also einer Organisation der Ausübung der Staatsgewalt, die bestmöglich horizontal und vertikal gewaltenteilig ist (funktionale und föderale Gewaltenteilung, dazu PdR, 94 ff., 118 ff., 167 ff, 191 ff., 244 ff.)), durch eine kompetentielle und prozedurale Regelung der politischen Willensbildung, aber auch durch eine Wirtschafts- und Finanzverfassung, eine Verfassung des öffentlichen Dienstes sowie durch eine Notstands- einschließlich einer Verteidigungsverfassung. In der Gewaltenteilung haben die Aufklärer, zumal Kant, die wichtigste Sicherung gegen die Despotie gesehen (MdS, 431 ff., 461 f., ZeF, 206 ff.). Zudem sind die Grundlagen und Grenzen der Integration des Staates in internationale Organisationen zur Friedenssicherung (Vereinte Nationen) und zur globalen Förderung der Wohlfahrt (Welthandelsorganisation) zu regeln . Deutschland erweist sich insbesondere „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ (Präambel, vgl. auch Art. 23 GG, europäisches Integrationsprinzip). Das Europäische Unionsrecht hat wegen seines praktizierten weitgehenden Vorranges vor dem nationalen Recht, auch den meisten verfassungsgesetzlichen Regelungen, in der Praxis einen Rang wie das Verfassungsgesetz, ohne freilich Verfassungsgesetz oder gar Verfassung zu sein (PdR, 66 ff., 252 ff.). Wegen des demokratischen Republikprinzips als Logik des Freiheitsprinzips müssen die Strukturprinzipien des Grundgesetzes, das Rechts- und Sozialstaatsprinzip, aber auch das demokratische und das föderale Prinzip den Vorrang vor dem Gemeinschaftsrecht behaupten. Das gilt auch für den Wesensgehalt der Grundrechte, jedenfalls den allgemeinen Grundrechtsstandard (vgl. BVerfGE 89, 155 (187 ff.); PdR, 82 ff.). Das letzte Wort in den Grundsatzfragen des Rechts ist Sache der nationalen Gerichtsbarkeit. Dieses kann dem Europäischen Gerichtshof nicht zugestanden werden, zumal der Gerichtshof nicht demokratisch legitimiert ist (PdR, 131 ff., 212 ff.) .
c) Gesetz
aa) Gesetze als Wille des Volkes und gesetzgeberische Funktionen des Staates
Die Gesetze sind der Wille des Volkes. Sie sind als Wille jedes einzelnen Bürgers und zugleich aller Bürger, als „der allgemein vereinigte Volkswille“ (MdS, 432; auch ÜdG, 150 ff.), aufgrund der Freiheit jedes Bürgers, nämlich der Autonomie des Willens, verbindlich (Rprp, 275 ff., 325 ff., 519 ff., 637 ff.; FridR, 67 ff., 318 ff.; PdR, 30 ff., 94 ff.). Aus der Menschheit des Menschen, wie jedes „vernünftigen Wesens“, „als Zweck an sich selbst“, folgt nämlich „die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“ (GzMdS, 63). Alle legislativen, exekutiven und judikativen Organe des Staates haben gesetzgeberische Funktionen (Rprp, 819 ff.; PdR., 191 ff., 244 ff.). Vorrang haben die Gesetze der Legislative (PdR, 105 ff.). Diese müssen die Verfassung und das Verfassungsgesetz achten. Über die Rechtlichkeit der Gesetze entscheiden die Gerichte, letztlich meist das Bundesverfassungsgericht (PdR, 244 ff.). Dadurch erwächst den Gerichten eine gesetzgeberische Funktion; denn sie haben die Aufgabe und die Befugnis zu erkennen, was Recht ist. Das ist Erkenntnis der Sittlichkeit, die nur in Moralität geleistet werden kann. Auch die offenen Rechtsbegriffe (etwa: gute Sitten) delegieren funktional Rechtsetzungsbefugnisse an die Gerichte (StUuPrR, 385 ff. ). Jede Behörde ist im Rahmen der Gesetze, zumal auf Grund offener Rechtsbegriffe, zur näheren Regelung in ihrem Aufgabenbereich befugt und hat damit gesetzgeberische Funktion. Zumindest muß sie ihre Vorschriften gleichheitlich anwenden. Alles staatliche Handeln muß auf Legislativgesetzen beruhen, die freilich nur die wesentliche Politik bestimmen müssen (Wesentlichkeitslehre, BVerfGE 33, 1 (10 f.); 98, 218 (251 ff.); st. Rspr.; PdR, 116 f.)). Der Gesetzesvorbehalt wird in der Praxis für den Bereich der staatlichen Leistungen weitgehend auf einen Budgetvorbehalt reduziert.
bb) Sittlichkeit der Gesetze
Die Gesetze schaffen nur Recht, wenn sie nach Zweck und Materie sittlich, d.h. theoretisch und praktisch vernünftig sind, wie noch ausgeführt werden wird. Das ist nur durch die Moralität der Gesetzgeber gewährleistet. Den „Vertretern des ganzen Volkes“ in den Organen der Gesetzgebung (vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG), aber auch der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung, obliegt die Erkenntnis der Materie der Gesetze, kognitivistisch, nicht dezisionistisch. Das bedarf für die Gesetzgebung bestmöglicher Wissenschaftlichkeit und bestmöglichen Diskurses, für den vornehmlich die Abgeordneten in den Parlamenten verantwortlich sind, der aber ohne Öffentlichkeit nicht demokratisch, also nicht freiheitlich ist (Rprp, 584 ff.). Die Gesetzgebungsverfahren müssen die Wahrheitlichkeit und die Richtigkeit der Gesetze gewährleisten (PdR, 143 ff., 354 f., 427). Die prozedurale dient der materialen Gerechtigkeit.
Die Gerichte haben die Verantwortung für die Sittlichkeit der Gesetze, weil Gesetze, die nicht durch die Sittlichkeit Recht schaffen, die Freiheit, aber auch die Grundrechte verletzen (Rprp, 978 ff., 990 ff.; FridR, 424 ff.; PdR, 244 ff.). Die Rechtsprechung praktiziert die verfassungsgebotene praktische Vernunft als Willkürverbot, als Verhältnismäßigkeitsprinzip, als Vertrauensschutzprinzip, zusammengefaßt als Sachlichkeitsgebot, mittels Abwägung der verfassungsrangigen Prinzipien und anderer Rechtsgrundsätze (dazu PdR, 329 ff., 342 ff., 359 ff.).
6. Recht und Gerechtigkeit
„Das Recht (nicht das Gesetz) ist heilig“
Heinrich Triepel
a) Begriff des (freiheitlichen) Rechts
Kant definiert das Recht als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (MdS, 337). Allgemeine Gesetze sind der allgemeine Wille. Die Allgemeinheit des Willens, die praktische Vernunft oder die Sittlichkeit also (GzMdS, 41 ff. 58 ff., 81 ff.; FridR, 67 ff., 83 ff.), wahrt die Allgemeinheit der Freiheit; denn jeder lebt, weil er Allgemeinwille, der auch sein Wille ist, das Gesetz gibt (Autonomie des Willens), unabhängig von anderer nötigender Willkür und somit äußerlich frei (MdS, 345). Die Allgemeinheit des gesetzgebenden Willens verwirklicht (der Idee nach) zugleich die Brüderlichkeit, das Sozialprinzip, also bestmöglich das gute Leben aller im Gemeinwesen. Die Gesetze müssen Gesetze auch der inneren Freiheit als der Sittlichkeit sein. Sie müssen die Menschheit des Menschen wahren (GzMdS, 63; MdS, 345 f., 381 f.; Rprp, 446; FridR, 420 ff., insb. 431 ff.), vor allem die Freiheit selbst, das jedem Menschen angeborene Recht (MdS, 345; PdR, 28 ff.). Der Rechtsbegriff Kants ist auf die allgemeine und gemeinsame Freiheit hin definiert, die durch die allgemeinen Gesetze ermöglicht und verwirklicht wird. Wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine Einheit bilden, so auch die (im freiheitlichen Sinne) liberale mit der sozialen Dimension des Rechts. Kants Definition der Rechts ist somit nicht liberalistisch oder gar insozial, sondern republikanisch, also sozial im Sinne der gemeinschaftlichen Verantwortung der Bürger für das gute Leben in gleicher Freiheit, das nur in Brüderlichkeit, Solidarität, gelebt werden kann. Kants prozeduraler Begriff kann, ohne in der Sache abzuweichen, material formuliert werden, nämlich: Recht ist das Richtige für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit, das in Gesetzen demokratisch beschlossen wird (vgl. Rprp, 567 ff., 573 ff., 978 ff, 990 ff. (996); FridR, 274 ff., 405 ff.; PdR, 19 ff.; SD, 27 ff.). Das gute Leben aller ist die bestmögliche Wirklichkeit der Menschenrechte, sowohl der liberalen (1. Generation) als auch der sozialen (2. Generation) und der ökologischen (3. Generation).
Recht ist nicht (positivistisch) identisch mit jeder Materie der Gesetze, sondern nur mit einer Gesetzesmaterie, welche der Menschheit des Menschen, insbesondere den Menschenrechten, und dem Sittengesetz, dem kategorischen Imperativ, entspricht, also mit „Rechtsgesetzen“ (MdS, 338). Die Rechtsprinzipien sind die Verfassung jedes menschlichen Gemeinwesens und bedürfen keiner Gesetze. Aber die Gesetze einschließlich der Verfassungsgesetze dürfen diesen nicht widersprechen.
b) Recht und Wahrheit
Es gibt kein Recht ohne Wahrheit, die Theorien von der Wirklichkeit (Rprp, 567 ff., 598 ff., 1103 f.; i.d.S. auch BVerfGE 49, 89 (143); 53, 30 (58 f.)), die theoretische Vernunft also; denn die Gesetze sollen das gemeinsame Leben regeln, wie es ist, nicht wie man es sich wünscht, auf der Grundlage von wirklichkeitsverzerrenden Ideologien etwa. Die Tatbestände der Rechtssätze erfassen die Wirklichkeit, das Sein; die gesetzlichen Rechtsfolgen schreiben ein Handeln (oder, wenn man so will, auch ein Unterlassen) vor, ein Sollen, um die Wirklichkeit zu beeinflussen. In manchen Rechtsätzen wird aus guten Gründen auf den Schein von Tatsachen abgestellt, die auch ein Faktum sind (Rechtsscheinsprinzip ).
„Aus Tatsachen lassen sich keine Normen herleiten“ (Karl-Otto Apel ). Das Sollen folgt zwar nicht aus dem Sein, ist aber der Wirklichkeit verpflichtet (Rprp, 138 f., 522 f., 540 ff., 757 f. ). Die Wahrheitlichkeit ist ein Imperativ der Ethik, genauer: der Sittlichkeit, ein kategorischer Imperativ , weil nur richtig im Sinne der Freiheit sein kann, was auf Wahrheit beruht (Rprp, 569; PdR, 143 ff. ). Unwahrheit behindert die Erkenntnis des Rechts, also die Freiheit. Wahrheitlichkeit ist eine Grundpflicht der Republik, wie jeden Rechtsstaates. Veritas, non auctoritas facit legem. Die praktische Vernunft setzt somit die theoretische Vernunft voraus. Daraus leitet sich das Sachlichkeitsprinzip her (BVerfGE 3, 58 (135 f.; 76, 256 (329); st. Rspr.), das Willkürverbot (PdR, 329 ff.). Die Sache ist die Wirklichkeit und die dieser angemessene Gesetzlichkeit.
c) Gerechtigkeit, Rechtlichkeit, Gesetzlichkeit
Der Rechtsstaat zielt auf Gerechtigkeit (BVerfGE 7, 89 (92)). Ge¬rechtigkeit im Staat ist die Rechtlichkeit, also Gesetzlichkeit, wenn die Gesetze sittlich sind, d. h. wenn der Gesetzgeber, das ganze Volk, und die Vertreter des ganzen Volkes, die Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG), bei der Gesetzgebung moralisch gehandelt, das Sittengesetz beachtet haben, sich vom guten Willen haben leiten lassen (Rprp, 279 ff., 519 ff., 637 ff.; FridR, 83, 405 ff.). Die Republik braucht den „moralischen Politiker, nicht den politischen Moralisten“ (ZeF, 233), also bürgerliche Bürger. Gesetzlichkeit heißt, daß alle Rechtsvorschriften materieller und proze¬duraler Art unverletzt bleiben. Gerechtig¬keit besteht gleich¬rangig aus materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Beide Prinzipien haben den Verfassungs¬rang des Rechtsstaatsprinzips (BVerfGE 2, 380 (403); 7, 89 (92); 49, 304 (308); 82, 6 (12)). Der Gesetzgeber habe zu entscheiden, welche Maßnahmen er um der Rechtssicherheit willen zu Lasten der materiellen Gerechtigkeit treffen wolle, pflegt das Bundesverfassungsgericht zu erklären (BVerfGE 2, 380 (403 ff.); 3, 225 (237); st. Rspr.; PdR, 20 f.). Materielle Ge¬rechtigkeit und Rechts¬sicherheit sind Zwecke der Gesetze, die insgesamt das gute Leben in allgemeiner Freiheit verwirklichen und darum nicht relevant nach den beiden Zwecken unterschieden werden können. Rechts¬staatlichkeit zielt auf bestmögliche materiale Gerechtigkeit. Ein wesentliches Instrument der rechtssichernden Gerechtigkeit ist die Rechtskraft, welche der Unsicherheit des materiellen Rechts mittels eines Verfahrens ein Ende setzt und dadurch gerechte Rechtssicherheit schafft (PdR, 142 ff.). Der Vorwurf, das Gesetz sei nicht Recht, ist sittlich. Sittlich ist die praktische Vernünftigkeit, also die durch Unparteilichkeit gewährleistete Sachlichkeit der Gesetze
Gustav Radbruch, der dem Rechtspositivismus verpflichtet war, hat das Verhältnis von Gesetz und Gerechtigkeit wie folgt definiert (vgl. PdR, 21 f.):
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechts¬sicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich un¬gerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht hat, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat“ (Radbruchsche Formel).
Diese Definition wird vom Bundesverfassungsgericht für die Be¬stimmung des Verhältnisses von „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG aktiviert (BVerfGE 3, 58 (119); 54, 53 (67 f.); st. Rspr.). Nach Auffassung des Gerichts hält die „Formel“ in Art. 20 Abs. 3 GG das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Gericht leitet aus dem Wort „Recht“ die Befugnisse des Richters zur schöp¬ferischen Rechtsfindung her, welche verfassungs¬mäßige Wertvor¬stellungen, die in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen Ausdruck erlangt haben, ohne Willkür nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeits¬vorstellungen der Gemeinschaft verwirklicht (BVerfGE 9, 338 (349); 34, 269 (286 ff.)). Das Gericht lehnt damit einen „engen Gesetzespositivismus“, wie Art. 97 Abs. 1 GG, der die Richter an die Gesetze bindet, mißverstanden werden könnte, ab und löst den Richter von der Bindung an Gesetze, welche nicht dem Recht genügen und darum keine Verbindlichkeit begründen (Rprp, 870 ff.). Ob ein Gesetz Recht setzt, beurteilt sich nach dem Sittengesetz und hängt von der Moralität derer ab, die das Recht zu erkennen und zu beschließen haben.
Die Verantwortung für die Sittlichkeit/praktische Vernünftigkeit der Gesetze hat zunächst der Gesetzgeber, aber auch die Rechtsprechung, vornehmlich das Bundes-verfassungsgericht (FridR, S. 420 ff.), welches das dem Gewaltenteilungsgrundsatz abgewonnene Zurückhaltungsgebot (Rprp, S. 955 f.; FridR, S. 428) mit Leerformeln wie „evidente Überschreitung äußerster Grenzen“ etwa der demokratischen „Haushaltsautonomie“ durch die „Übernahme von Zahlungsverpflichtungen oder Haftungszusagen“ oder „weiter Einschätzungsspielraum“ des Haushaltsgesetzgebers hinsichtlich „der Abschätzung der künftigen Tragfähigkeit des Bundeshaushaltes und des wirtschaftlichen Leistungsvermögens der Bundesrepublik Deutschland“, „den es zu grundsätzlich respektieren“ habe, zunehmend überzieht (BVerfGE 129, 124 (182 f.); zuletzt BVerfG 2 BvR 1421/ 12, Urteil vom 12. September 2012, Abs. 216, 217, 234) und offenkundiges Unrecht des Gesetzgebers, wie die Eurorettungspolitik, nicht zurückweist.
7. Kultur
Zur Kultur des Gemeinwesens gehören das Verfassungsgesetz und die Gesetze sowie die gewohnten Handlungsweisen der Menschen, die in den guten Sitten zum Ausdruck kommen. Die Kultur ist freiheitlich, wenn die Rechtsordnung das Recht, d.h. die menschheitliche Verfassung, wahrt. Eine freiheitliche Kultur ist eine Kultur der Sittlichkeit und der Schönheit . Diese setzt Moralität jedes einzelnen Menschen, vor allem der Vertreter des Volkes voraus. Moralität bedarf der Erziehung (Über Pädagogik, 697 ff.). Moral ist eine Notwendigkeit des gemeinsamen Lebens, gehört aber nicht zur Persönlichkeit eines jeden Menschen. Das Vernunftwesen ist ein Werk der Kultur, wie die Verbrechen, welche die Menschheit erlebt hat, erweisen. Die meisten Menschen dieser Welt haben in Despotien gelebt und leben in Despotien. Die Wirklichkeit der Freiheit ist den Menschen, wenn auch die Freiheit dem Menschen als Recht angeboren ist, nicht gegeben, sondern aufgegeben. Die vornehmste Aufgabe der Politik ist es, die allgemeine Freiheit zu fördern. Herrschsucht, Habsucht und Ehrsucht verleiten jedoch die (sogenannten) Politiker regelmäßig dazu, den Menschen die Freiheit zu nehmen. Gegenwärtig birgt der Internationalismus und der Integrationismus, weil beide kapitalistisch betrieben werden, die größte Gefahr für die Rechtlichkeit und Gerechtigkeit des gemeinsamen Lebens, die ohne wirkliche Demokratie mangels politischer Freiheit, die eine hinreichende institutionelle Verwirklichungschance hat, nicht gewährleistet ist. Die Kultur ist das gelebte Ethos Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, der Sittlichkeit. Wesentlicher Teil der Kultur ist die Politik als „ausübende Rechtslehre“ (ZeF, 229). “Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben,…“ (ZeF, 243). Die Wissenschaft dient dem guten Leben aller in allgemeiner Freiheit, also dem Staatszweck, nicht anders als die Kunst, deren Maxime die Schönheit ist. Nach Kant ist „das Schöne im Ideal“ (KdU, 318) „das Symbol des Sittlich-Guten“ (KdU, 461).
III. Sittlichkeit und Moralität für Freiheit, Recht und Staat
1. Freiheit, Gesetz, Zwang
a) Handeln, allgemeiner Wille, Gesetzlichkeit
Freiheit vollzieht sich im Handeln. Alles Handeln hat Wirkung auf alle. Handeln übt Gewalt aus, weil es unvermeidbar andere, alle anderen nötigt; denn es ändert die Welt. Weil aber die äußere Freiheit die Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür ist, sind alle anderen, die durch ein Handeln betroffen sind, nur frei, wenn sie in alles Handeln eingewilligt haben. Nur wenn alles Handeln dem allgemeinen Willen als dem Willen aller entspricht, verletzt das Handeln nicht die allgemeine Freiheit. Der Allgemeinwille manifestiert sich im allgemeinen Gesetz. Nur durch die Gesetze sind die Menschen frei (Rprp, 275 ff., 325 ff.; FridR, 49 ff., 274 ff.; PdR, 94 ff., auch zum Folgenden). Ohne Gesetze gibt es keine allgemeine Freiheit. Gesetze schränken die Freiheit nicht ein, wie es der Liberalismus lehrt (Rprp, 441 ff.; FridR, 343 ff.), sondern sie verwirklichen die Freiheit, welche durch ihre Allgemeinheit bestimmt ist (GzMdS, 63; MdS, 338, 527; FridR, 49 ff.). Nicht Gesetzlosigkeit ist Freiheit, sondern Gesetz-lichkeit. Handeln, das dem allgemeinen Gesetz als dem Gesetz aller entspricht, verletzt niemanden in der Freiheit; denn volenti non fit iniuria (MdS, 432; FridR, 49 ff.). Freilich müssen die Gesetze dem Recht genügen.
b) Gewalt, Legalität, Zwang
Gewalt ist nicht als solche rechtlos. Gewalt ist unter Menschen unvermeidbar, weil Menschen handeln. Vielmehr ist die ungesetzliche Gewalt Unrecht. Die Legalität nimmt der Gewalt die Rechtlosigkeit . Gewalt als verkürzte Metapher der politischen Alltagssprache lenkt davon ab, daß nicht der Zwang die Freiheit verletzt, sondern die Ungesetzlichkeit. Ohne Zwang läßt sich die Freiheit nicht verwirklichen. „Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt (Anarchie)“ hat Kant in der Anthropologie (S. 686; FridR, 100 ff.) plakatiert. Der Zwang ist eine „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ (MdS, 338 f., 527; FridR, 110 ff.; PdR, 118 ff.). Zwang aber ist nur eine Form des Handelns, nämlich die Form, welche geeignet ist, die Willkür des einen gegen die Willkür des anderen durchzusetzen, aber eben auch um der Freiheit willen das Gesetz. „Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden“ (MdS, 338 f.), also Zwang (Gewalt im Sinne der Umgangssprache) eine Notwendigkeit des gemeinsamen Lebens (Rprp, 545 ff.; PdR, 121 ff.).
2. Rechtlichkeit durch Sittlichkeit und Moralität
a) Allgemeiner Wille, innere Freiheit, Selbständigkeit
Die Allgemeinheit der Gesetze erwächst der Autonomie des Willens, dem Allge-meinwillen, der Rousseauschen volonté générale. Der Wille ist allgemein. Alle wollen dieselbe Regelung zum Gesetz machen, so daß ein gesetzgeberischer Konsens unter allen Bürgern besteht. Dieser Konsens, die Übereinstimmung des Willens aller, ist die republikanische Sittlichkeit, die praktische Vernunft, welche die Achtung des Sittengesetzes oder eben die Wirklichkeit des guten Willens, des Allgemeinwillens, erfordert. Die Sittlichkeit ist ohne Moralität unerreichbar (FridR, 83 ff., auch zum Folgenden). Alle müssen ihre Willkür dem Sittengesetz unterwerfen, d.h. zur inneren Freiheit finden, um größtmögliche und praktische Vernunft bemüht sein, damit ihr Wille Gesetz werden kann; denn allgemeiner Wille kann nur sein, was praktisch vernünftig, also sittlich ist. Wer bei der Gesetzgebung als der Erkenntnis und dem Beschluß des Gesetzes, seinen Vorteil sucht, ist bestrebt, andere zu übervortei¬len, dem mangelt es an innerer Freiheit. Wer sich bevormunden läßt, ist nicht einmal äußerlich frei. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verlangen nach Selbständigkeit des Menschen (MdS, 432 ff.; Rprp, 234 ff.; FridR, 636 ff.). Wer nicht selbständig ist, ist der Zur Freiheit als der Autonomie des Willens gehört die Selbständigkeit; denn Untertänigkeit ist nicht Freiheit, die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ (Kant, MdS, 345).
b) Praktische Vernunft, theoretische Vernunft, Prozeduralismus
Die Gesetze sind der Sittlichkeit als der praktischen Vernunft verpflichtet. Praktisch vernünftig ist das Gesetz, welches das Richtige für das gute Leben aller zur Materie des Gesetzes macht. Dieses Richtige ist als materiale Gerechtigkeit Staatszweck. Das gute Leben aller ist das gemeinsame Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, das die Menschenrechte verwirklicht, das sittliche Leben, welches die menschheitliche Verfassung achtet. Der Gesetzgeber muß, um den Staatszweck zu erreichen, seinen Beschlüssen Erkenntnisse des Richtigen zugrundelegen (Rprp, 560 ff.). Die Richtigkeit hängt von der Erkenntnis der Wirklichkeit, von der Wahrheit, die in Theorien der Wirklichkeit als der bestmöglichen Annäherung an die Wahrheit (Korrespon-denztheorie der Wahrheit), erfaßt wird , von der theoretischen Vernünftigkeit also, ab (Rprp, 567 ff.). Auf der Grundlage der theoretischen Vernunft wird das praktisch Vernünftige, das Richtige, als Erkenntnis argumentativ und diskursiv ermittelt (Rprp, 560 ff.).
Wer Bürger sein will, muß das Gesetz, unter dem er lebt, selbst verantworten. Er muß nicht nur an der Gesetzgebung teilhaben, weil er sonst fremder Gesetzgebung, also der nötigenden Willkür anderer, ausgeliefert ist, sondern weil die Richtigkeit der Materie des Gesetzes auch von seinem Beitrag abhängt. Das Gesetz ist die Sache jedes Bürgers. Das ist die Logik des Prozeduralismus (FridR, 427 f.). In diesem Sinne gilt: Res publica res populi. John Rawls hat als Metapher freiheitlicher Gesetzgebung den „Schleier des Nichtwissens“ der Gesetzgeber genannt . Wer die Gesetze gibt, darf danach nicht wissen, wem das Gesetz Vor- oder Nachteile bringt, er muß somit unparteiisch sein. Demnach muß er alle Verhältnisse, die Lage also, kennen und zumindest zu deren Kenntnis beitragen, also sein Wissen in den Diskurs einbringen. Nur der einzelne Bürger kennt aber seine Lage wirklich. Die Erkenntnis der Wirklichkeit und des Richtigen ist kognitivistisch, nicht etwa dezisionistisch (Rprp, 560 ff.). Nur diese Sittlichkeit wird dem Willkürverbot gerecht (FridR, 420 ff.) und wahrt das distributive Prinzip der Gerechtigkeit, das jedem das Seine zuzuteilen gebietet. Demgemäß besteht nicht nur ein Recht zur Teilhabe am gesetzgeberischen Diskurs, sondern eine bürger-liche Pflicht zur politischen Willensbildung.
c) Wider die Parteilichkeit
Wer nicht das Gemeinwohl im Auge hat, sondern seine Interessen oder die Interessen Dritter, etwa wie manch ein Politiker die Interessen der seiner Geldgeber, durchzusetzen versucht, trägt nicht zur Erkenntnis des allgemeinen Gesetzes bei und handelt nicht sittlich. Wer solche Interessen als Maßstab eines Gesetzes vorschlägt, macht keinen Vorschlag, den alle anderen anzunehmen erwarten lassen können, der mißachtet die Sittlichkeit. Seine Triebfeder ist nicht das Gemeinwohl, also die Allgemeinheitlichkeit der Gesetze, sondern Herrschsucht, Habsucht oder Ehrsucht. Dem fehlt es an gesetzgeberischer Moralität. Die innere Unparteilichkeit ist die Voraussetzung der Sittlichkeit.
Keinesfalls dürfen sich Bürger die Politik von den Parteien aus der Hand nehmen lassen. Die Parteilichkeit der Parteien widerspricht zutiefst der republikanischen Sittlichkeit. Demgemäß ist der Parteienstaat die Verfallserscheinung der Republik (Rprp, 772 ff., 1045 ff.; PdR, 45 ff., 176 ff.).
3. Gesetzlichkeit durch Staatlichkeit
a) Staatliche Gesetzlichkeit
Staatlichkeit ist Gesetzlichkeit. Gesetzlichkeit ist Staatlichkeit (Rprp, 519 ff.; PdR, 50 ff., 94 ff.). Ein „Staat (civitas)“ ist, wie schon zitiert, die „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ (MdS, 431). Die Organisation der Gesetzlichkeit, zu der neben der Gesetzgebung der Gesetzesvollzug (Verwaltung) und die Rechtsklärung (Rechtsprechung) gehören, ist der Staat. Die Gesetze verwirklichen das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit, wenn sie denn sittlich sind, also das gemeine Wohl, die Menschheit des Menschen, zum Zweck haben. Der Staat ist demgemäß die Einrichtung zur Verwirklichung des allgemeinen Wohls der Bürger. Zur Gesetzlichkeit oder besser: zur Rechtlichkeit, gehört, wie gesagt, die Durchsetzung der Gesetze und des Rechts, also ultima ratio der Zwang, der durch das Prinzip der Freiheit gerechtfertigt ist (MdS, 338 f.; Rprp, 545 ff.; FridR, 100 ff.; PdR, 118 ff.), weil Unrecht die allgemeine Freiheit verletzt. Der Zwang des Staates zur Durchsetzung der Gesetze muß selbst gesetzlich sein und die Prinzipien der praktischen Vernunft, vor allem das Verhältnismäßigkeitsprinzip, wahren (PdR, 329 ff., 342 ff.). Staatlichkeit befriedet das gemeinsame Leben, weil privater Zwang weitestmöglich erübrigt wird. Die Gesetzlichkeit (Rechtlichkeit) des Staates verwirklicht die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und bewirkt dadurch den Frieden. Jedenfalls kann sie es und soll sie es. Der Staat muß freilich Staat des Rechts, Rechtsstaat sein, der Demokratie als Staatsordnung der politischen Freiheit voraussetzt (Rprp, 14 ff. ).
b) Territoriales Friedensprinzip
Es war der Landfriede, der das Fehdewesen überwunden hat. Der Landfrieden hat schließlich zu den Territorialstaaten mit deren essentiellen Souveränitätsprinzip geführt (SD, 49 ff.) . Wer meint, die offene Staatlichkeit soweit treiben zu können, daß die territoriale Staatlichkeit erübrigt werden kann, gefährdet dieses Friedensprinzip . Das demokratische Prinzip hat er ohnehin aufgegeben, weil dieses, mit der Politik der Großstaatlichkeit unvereinbar, sich nur in kleinen Einheiten verwirklichen läßt (SD, 160 ff., 241 ff.). Die vertikale, territoriale oder föderale Gewaltenteilung ist zur Sicherung der Freiheit nicht minder unentbehrlich wie die horizontale oder funktionale Gewaltenteilung (PdR, 166 ff.). Rechtlichkeit und damit wirklicher Frieden gründen aber in der freiheitlichen Demokratie, der Republik. Die Politik der Großstaaten oder gar eines Weltstaates, wie sie vor allem die Finanzwirtschaft anstrebt, zielt auf Unterwerfung der Menschen unter die Herrschaft Weniger, auf Despotie oder, wenn man so will, Diktatur. Die europäische Integration ist von dem ewigen Kampf der Obrigkeit gegen die Untertanen geprägt, der Untertanen, die ihre Bürgerlichkeit immer nur ihrer Sittlichkeit, d. h. ihrer Selbstbehauptung, zu danken haben, nie oder allenfalls in seltenen Ausnahmefällen der Sittlichkeit der Herren.
IV. Sittliche Ausübung der Staatsgewalt
1. Sittliche Gesetzgebung
a) Volksgesetzgebung
aa) Demokratische Legitimation von Volksabstimmungen
Die Volksgesetzgebung durch Abstimmungen des Volkes, meist Volksentscheide aufgrund von Volksbegehren (etwa Art. 74 BV), oft auch für Änderungen des Verfassungsgesetzes vorgeschrieben, wie in Bayern (Art. 75 BV), kann gegenüber der repräsentativen Gesetzgebung die stärkere demokratische Legitimation beanspruchen, weil das Volk direkt oder unmittelbar, nicht vermittelt durch Vertreter, die Gesetze beschließt. Das Grundgesetz schreibt in Art. 20 Abs. 2 S. 2 die Ausübung der Staatsgewalt neben der durch Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung durch Abstimmung des Volkes ausdrücklich vor. Auf Bundesebene ist die plebiszitäre, besser: die direkte, oder, wenn man so will, identitäre Demokratie nicht verwirklicht – ein demokratisches Defizit. Die europäische Integration drängt zu einer Legalisierung durch neue Verfassungsgesetze der Mitgliedstaaten, weil sie funktional längst einen Bundesstaat geschaffen hat. Dem fehlt allerdings die demokratische Legitimation durch ein Unionsvolk, welches die Unionspolitik originär zu rechtfertigen vermag. Um ein solches Unionsvolk zu verfassen, müssen die Völker der Mitgliedstaaten ihre Souveränität ganz oder zum Teil aufgeben und eine solche des Unionsvolkes begründen. Das setzt in Deutschland nicht nur die Zustimmung des Bundesvolkes voraus, sondern auch die der Landesvölker. Zudem müssen die Bürger aller Mitgliedstaaten sich zu einem Unionsvolk verfassen (vgl. BVerfGE 123, 267, Abs. 179, 228, 263; SD, 186 f., 199, 206 ff., 263). Rousseau hat die Vertretbarkeit des Volkes in der Gesetzgebung zurückgewiesen, weil das die Bürger zu Untertanen mache (Contrat social, Drittes Buch, 15. Kap.). Kant hat den Republikanismus mit der Repräsentation verbunden (MdS, 464; ZeF, 206 ff.) und in der unmittelbaren Demokratie als Regierungsform einen Fall der Despotie gesehen (ZeF, 207). Gegen Volksabstimmungen wird eingewandt, daß die Bevölkerung nicht sachlich zu entscheiden vermag, aber die „Bevölkerung“ sind die Bürger, also die Gesetzgeber, der Souverän. Im übrigen läßt sich die gesamte Bürgerschaft sehr viel weniger korrumpieren als die Abgeordneten eines Parlaments im Parteienstaat, bekanntlich eine Negativauslese. Die Irreführung der Bürger ist eine Gefahr für die Sittlichkeit. Sie ist der Korrumpierung der Medien anzulasten.
bb) Mehrheitsprinzip und Mehrheitsregel
Bei Volksabstimmungen kommt es nach näheren Regelungen, insbesondere über die Mindestteilnahme (Quorum), auf die Mehrheit derer an, die einem Gesetzesvorschlag zustimmen. De facto ist das, wenn die Bürger nicht zu bestimmten Abstimmungen gezwungen werden, regelmäßig die Minderheit der Stimmberechtigten, so daß der Satz in der bayerischen Verfassung: „Mehrheit entscheidet“ (Art. 2 Abs. 2 S. 2 BV) empirisch, wie er formuliert ist, fragwürdig ist.
Wenn die Verbindlichkeit der Abstimmungen mit einem Mehrheitsprinzip begründet wird, welches es rechtfertigt, die Interessen der Mehrheit gegen die der Minderheit durchzusetzen, ist ein solches Gesetzgebungsverfahren nicht freiheitlich, weil das beschlossene Gesetz nicht der Allgemeinwille ist, der Wille der Minderheit (Rprp, 106 ff.; FridR, 150 ff.). Nur wenn die Bürger, die an der Abstimmung teilnehmen sich vom Sittengesetz, dem kategorischen Imperativ, leiten lassen und für den Vorschlag stim-men, von dem sie nach bestem Wissen und Gewissen überzeugt sind, er verwirkliche bestmöglich das allgemeine Wohl, und somit die gesetzgeberische Entscheidung mittels der Mehrheitsregel gefunden wird (Rprp, 119 ff.; FridR, 163 ff.), ist die Abstimmung freiheitlich. In jedem körperschaftlichen Beschlußverfahren bedarf es der Mehrheits-regel, wenn nicht auf den Konsens aller Organwalter abgestellt werden soll und dadurch der einzelne Organwalter, der nicht einzustimmen vermag, alle anderen, also die Mehr-heit, bestimmen, um nicht zu sagen, bevormunden können soll. Rousseau hat die Mehrheitsregel gemäß dem republikanischen Kognitivismus damit gerechtfertigt, daß die Minderheit sich über die volonté générale geirrt habe und darum unter dem Beschluß der Mehrheit frei sei (Cs, IV, 2).
cc) Sittlichkeit der Volksabstimmung
Rousseaus Erkenntnis impliziert die Sittlichkeit der Abstimmung jedes Bürgers. Das ist die Logik der allgemeinen Freiheit, welche der Sittlichkeit nicht entraten kann. Die Volksgesetzgebung schafft nur Recht, wenn jeder Bürger guten Willens ist, d.h. in Moralität abstimmt. Ohne Moralität gibt es keine Sittlichkeit, ohne Sittlichkeit aber kein Recht. Freilich ist die Moralität nicht überprüfbar, schon gar nicht erzwingbar (MdS, 508 ff., 511 ff., 520 ff., 527 ff.; FridR, 72). Die Abstimmungsbefugnis ist die ebenso systembestimmende Institution, wie deren Mißbrauch die systemwidrige Gefahr des freiheitlichen Gemeinwesens. Ohne Bürgerlichkeit aber und demgemäß innere Freiheit der Menschen gibt es keine Republik, sondern mehr oder minder ausgeprägte Herr-schaftssysteme, Despotien. Die Sittlichkeit der Volksabstimmungen hängen we-sentlich von der Sittlichkeit der Abstimmungsvorschläge, aber auch von der Sittlichkeit der Medien ab. Die Rechtmäßigkeit der Abstimmungsvorschläge verantworten die Regierungen, aber auch die Verfassungsgerichte. Bei Volksbegehren, welche die Ände-rung des Verfassungsgesetzes betreiben, haben wesentliche Verantwortung für die Sittlichkeit des Begehrens dessen Initiatoren. Die Chance sittlicher Volksabstimmung ist größer als die eines sittlichen Parlamentarismus, wie der parteienstaatliche „Deformation und Perversion“ des Parlamentarismus zeigt.
dd) Volksgesetzgebung versus Parteienoligarchie
Für die Volksgesetzgebung spricht vor allem, daß sie die Macht der Parteienoligarchien einschränkt. Im Parteienstaat haben im Gegensatz zum demokratischen Prinzip nur sehr wenige Parteiführer, selten genug Staatsmänner, politischen Einfluß. Der Parteienstaat tendiert allenfalls zur akklamativen Demokratie und ist aufgrund seiner führerstaat-lichen Strukturen mit republikanischen Prinzipien unvereinbar (Rprp, 1060 ff.; PdR, 45 ff.). Typisch nisten sich Parteien in den Institutionen der Republik ein. Ihr wichtigstes Instrument ist die ebenso verfassungswidrige wie strafbare Ämterpatronage (Rprp, 1113 ff. ). Parteigänger pflegen ihren Vorteil zu suchen. Dafür müssen sie vorgeben, dem Volk zu dienen. Meist wird der Parteienstaat trotz aller demokratischen Defizite als einzig mögliche Realität der Demokratie (Parteiendemokratie) gerechtfertigt. Das ist reine Apologie der Oligarchie (vgl. Rprp, 772 ff., 1054 ff.). Das Volk mag verführt werden können, es kann aber nicht derart korrumpiert werden wie die Abgeordneten (Rprp, 792 ff., 1060 ff., 1086 ff., 1113 ff.). Insbesondere kann die Parteienoligarchie in fremde Botmäßigkeit geraten, nicht ein freies Volk. Das Volk kann unterdrückt werden, auch mit Hilfe von Parteienoligarchien. Allein schon diese Gefahr gebietet es, Volksabstimmungen einzurichten.
b) Repräsentative Gesetzgebung
Die Gesetzgebung ist weitestgehend nach den Verfassungsgesetzen und durchaus auch der Verfassung der Menschheit des Menschen gemäß repräsentativ. Für die vollziehen-de Gewalt wie für die Rechtsprechung ist die Repräsentation unausweichlich. Ein Scherbengericht, wie es Athen im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert praktiziert hat , widerspricht rechtsstaatlichen Gerichtsprinzipien, welche die rechtswissenschaftliche Befähigung der Richter, aber auch Verfahren gebieten, welche der Erkenntnis der Wahrheit und des Richtigen eine größtmögliche Chance geben (PdR, 135 ff, 143 ff.). Die Vertretung des ganzen Volkes, die Nationalrepräsentation, hat Abbé Sieyes, der Konstrukteur der Revolutionsverfassung der Französischen Republik von 1791 (Sektion III, Art. 7), in das Staatsrecht eingeführt . Die Abgeordneten haben nicht im Sinne eines imperativen Mandates ihren Wahlbezirk im Parlament zu vertreten, sondern als Vertreter des ganzen Volkes das ganze Volk, dessen Willen, also die Republik, den Staat im weiteren Sinne, obwohl kein Abgeordneter von der Volksgesamtheit gewählt worden ist (Rprp, 637 ff., 710 ff.). Das ist beim Mehrheitswahlsystem wegen der Wahlbezirke augenscheinlich, aber auch das parteienstaatliche System der „mit einer Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ mit Kreiswahlvorschlägen und Landes-listen wie bei der Bundestagswahl (§ 1 BWahlG) ändert daran nichts. Kein Abgeord-neter Bayerns im Bundestag ist je von den Wählern Berlins oder Hamburgs gewählt worden; er ist aber auch deren parlamentarischer Repräsentant. Der parteienstaatliche Charakter der Wahlen wird durch die Sperrklauseln, etwa 5 % der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen bei der Bundestagswahl (§ 6 Abs. 6 BWahlG), wesentlich, wenn auch verfassungsrechtlich bedenklich, gestärkt.
Im Europäischen Parlament sind zudem die meisten Mandatsträger von fremden Völkern gewählt. Sie sind demgemäß auch “Vertreter der Völker“ (so noch richtig Art. 189 EGV). Sie beschließen aber für alle Mitgliedstaaten und Unionsbürger. Nach Art. 10 Abs. 2 EUV „sind die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“, ein wesentlicher Schritt zur existentiellen Staatlichkeit der Union. Die 5%-Sperrklausel des § 2 Abs. 7 EuropaWahlG hat das Bundesverfassungsgericht am 9. November 2011 für verfassungswidrig erklärt (1 BvC 4, 6, 8/10).
Hinnehmbar ist das Repräsentationsprinzip nur, wenn alle Abgeordneten Vertreter des Volkes in dessen Sittlichkeit sind, wenn jeder Abgeordneter größtmöglich bemüht ist, das Richtige für das gute Leben aller, das Gemeinwohl, zum Gesetz zu machen, wenn sich somit jeder Abgeordneter dem Rechtsprinzip als dem Prinzip der praktischen Vernunft beugt, nach welchem nur Recht ist, was der Menschheit des Menschen entspricht und was das Volk als volonté générale im Rousseauschen Sinne erkennen und beschließen würde (MdS, 432; ÜdG, 153). Die Formel demokratischer Repräsentation ist der kategorische Imperativ, das Sittengesetz. Um das ganze Volk sittlich vertreten zu können, sind die Abgeordneten laut Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen, die magna charta des republikanischen Parlamentarismus (Rprp, 810 ff.). Das Gewissen definiert Kant als den Gerichtshof der Sittlichkeit (MdS, 573).
Auch Volksabstimmungen sind insofern repräsentativ, als die Bürger, die einem Volksbegehren zustimmen, für all die mitentscheiden, die dieses ablehnen, die nicht mitstimmen, die nicht mitstimmen dürfen (Kinder, Jugendliche und sonstige Menschen, die nicht stimmberechtigt sind; hoffentlich nicht irgendwann die alten Menschen) und die noch nicht mitstimmen können, weil sie noch nicht geboren sind. Jedes Gesetz gestaltet die Zukunft. Fehlentwicklungen können nur begrenzt wiedergutgemacht werden.
2. Sittliche Rechtsprechung
a) Verantwortlichkeit der Gerichte für die Rechtlichkeit der Gesetze
Nicht nur die Gesetzgebung ist verantwortlich für die Rechtlichkeit und damit für die Sittlichkeit der Gesetze, sondern auch die Rechtsprechung. Die Richter sprechen im Namen des Volkes Recht und sind dadurch Vertreter des Volkes in dessen Sittlichkeit (FridR, 424 ff.). Aufgabe und Befugnis der Richter ist die verbindliche Klärung des Rechts in den verschiedenen von den Prozeßordnungen vorgesehenen Rechtsklä-rungsverfahren, die meist Streitentscheidungsverfahren sind (Rprp, 827 ff., 911 ff., 1137 ff.; PdR, 122 f., 135 ff.). Die Richter sind nach Art. 97 Abs. 1 GG „unabhängig und nur den Gesetzen unterworfen“, aber die Gesetze müssen dem Recht entsprechen. Das ergibt Art. 20 Abs. 3 GG, der die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ bindet, folgt aber auch aus der Bindung der Rechtsprechung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG), aus der Unantastbarkeit des Wesensgehalts der Grundrechte (Art. 19 Abs. 2 GG) und aus der im Verfassungsstaat richtigen Einrichtung der konkreten Normenkontrolle des Art. 100 Abs. 1 GG (PdR, 244 ff.). Jedes Gericht trägt wegen der Normprüfungspflicht die Verantwortung für die Rechtlichkeit der Gesetze. Insoweit ist jedes Gericht Verfassungsgericht. Die Normverwerfungsbefugnis für (formelle und nachkonstitutionelle ) Gesetze freilich hat nach Art. 100 Abs. 1 GG das Bundesver-fassungsgericht. Dieses Verfassungsorgan hat in den Verfahren der abstrakten Normen-kontrolle, der Organstreitigkeiten, der Bund-Länder-Streitigkeiten, der Länder-Länder-Streitigkeiten und vor allem auf Grund von Verfassungsbeschwerden (Art. 93 Abs. 1 GG) weitere Verantwortung für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze (PdR, 249 ff.). Jedes Gericht ist im übrigen auch Europarechtsgericht, weil das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten unmittelbar angewandt wird und weitestgehenden Vorrang vor dem nationalen Recht beansprucht (PdR, 82 ff.) . Jedes Gericht kann, die letztinstanzlichen Gerichte müssen klärungsbedürftige Ge¬meinschaftsrechtsfragen im Vorabentschei-dungsverfahren vom Europäischen Gerichtshof entscheiden lassen (Art. 267 AEUV) . Das hat dem Rechtsprinzip geschadet, vor allem weil dem mächtigen Gerichtshof jede demokratische Legitimation ermangelt, derer ein Verfassungsgericht im besonderen Maße bedarf (SD, 225 ff.).
b) Politische Verantwortung und Macht der Gerichte
Jede Verantwortung für das Recht überträgt den Gerichten, vor allem den Verfassungsgerichten und dem Europäischen Gerichtshof, die Aufgabe und Befugnis, die meist offenen Begriffe des Verfassungsrechts und des Unionsrechts, zumal die der Grundrechte (Rprp, 819 ff.), zu materialisieren. Der Europäische Gerichtshof hat, orientiert an der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte, aber auch an den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV), eine gemeinschaftliche Grundrechteverantwortung in Anspruch genom-men und Rechtsgrundsätze entwickelt, die keine textliche Grundlage hatten. Inzwischen gibt es die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 12. Dezember 2007, ein Rückschritt der Menschenrechtskultur. Die Grundrechtetexte, immerhin legitimiert durch die jeweilige Verfassungsgesetzgebung, vermögen als politische Leitent-scheidungen, zumal in ihren Zusammenwirken, allenfalls eine weite Bindungswirkung zu entfalten. Es ist allemal das Prinzip der praktischen Vernunft, also das der Sitt-lichkeit, welches die Gerichte als Rechtsprinzip bindet. Es macht keinen Unterschied aus, wenn man das Prinzip der praktischen Vernunft das des rechten Maßes oder eben das der Verhältnismäßigkeit oder auch das Willkürverbot nennt. All diese Begriffe bringen das Prinzip der Sachlichkeit zur Sprache (PdR, 329 ff., 342 ff., auch FridR, 420 ff.). Durch die Verantwortung für das Recht haben die Gerichte das letzte Wort über die Sittlichkeit der Politik, die praktische Vernunft der Gesetzgebung. Der Herrenchiemseer Entwurf des Grundgesetzes wollte demgemäß die Richter wie die Abgeordneten ihrem Gewissen verpflichten (Art. 132 HChE; vgl. Rprp, 972 f. ). In den Text des Grundgesetzes ist das nicht aufgenommen worden, gilt aber der Sache nach, weil die Richter aufgrund der genannten Befugnisse funktional Gesetzgeber sind, sogar Gesetzgeber mit insgesamt größerer Macht als die Legislativorgane (Rprp, 858 ff.; PdR, 203 ff., 207 ff.). Die Rechtlichkeit der Gesetze können die Richter nur an ihren eigenen Maßstäben bestmöglicher Gesetze messen. Wenn die von der Legislative beschlossenen Gesetze von den Rechtsvorstellungen der Richter grob abweichen, trifft sie der Willkürvorwurf, der Vorwurf des groben Unrechts (PdR, 329 ff.). Angesichts der politischen Verantwortung der Gerichte ist die Sittlichkeit auf die Moralität der Richter verwiesen, vor allem die Moralität der Richter in den Verfassungsgerichten und im Europäischen Gerichtshof. Es versteht sich, daß die politische Macht dieser Richter starker demokratischer Legitimation bedarf, derer die Richter des Europäischen Gerichtshofs gänzlich entbehren (PdR, 212 ff., 215 ff., SD, 225 ff.). Die Einbindung der Richter in die Parteien setzt sich der Kritik der Parteienstaatlichkeit aus.
3. Sittlicher Gesetzesvollzug
Der Gesetzesvollzug muß um der Rechtlichkeit willen die Legalität gewährleisten. Für die Legalität der Verwaltungsakte und sonstigen Verwaltungsmaßnahmen sind die Beamten (und die anderen öffentlich Bediensteten) verantwortlich, deren Dienst ohne Moralität, d.h. vor allem ohne Unbestechlichkeit, aber auch ohne Unparteilichkeit, die Republikanität nicht erreichen kann (zum Amts- und Dienstprinzip PdR, 310 ff.). Die Republik bedarf somit eines öffentlichen Dienstes, der dafür gerüstet ist. Die wesentliche Eigenschaft eines solchen öffentlichen Dienstes ist die Gewährleistung der Sittlichkeit durch die Moralität der Amtswalter. Das verbietet nicht nur die Partei-lichkeit im öffentlichen Dienst, sondern prinzipiell auch die Parteimitgliedschaft der öffentlich Bediensteten. Das Grundgesetz schreibt darum in Art. 33 Abs. 4 vor, daß die „hoheitsrechtlichen Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen sind, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen“. Das „Recht des öffentlichen Dienstes“ ist nach Art. 33 Abs. 5 GG „unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamten-tums zu regeln“. Das Grundgesetz schreibt damit den Vollzug der Gesetze regelmäßig durch Beamte vor. Das gebietet das Republikprinzip, zu dem das Amt- und Diensts-prinzip gehören (PdR, 310 ff.) . Das Beamtentum wird in der Arbeitnehmergesellschaft zunehmend zurückgedrängt. Das Mittel ist, wie auch für die Entrechtung anderer Berufsgruppen, etwa der Ärzte, jahrelange Diffamierung. Man sucht die Flexibilität des Arbeitsrechts, handelt sich mit dem Tarifwesen aber amtswidrige Streikbefugnisse im öffentlichen Dienst ein. Dem Grundgesetz entspricht das nicht, wenn auch der von den Gerichten akzeptierten Praxis , die auf Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst Art. 33 Abs. 4 und 5 GG nicht anwendet (BVerfGE 3, 162 (186); vgl. auch BVerfGE 44, 249 (262 f.)). Zunehmend werden Dienste des Staates formell privatisiert, d. h. in Privatrechtsformen organisiert oder durchgeführt, vor allem um den Amtswaltern für die „Jobs“ andere, auf der Leitungsebene meist höhere, Gehälter zahlen zu können, als sie das bundesrechtlich festgelegte Besoldungswesens des beamteten Dienstes zuläßt. Mit den Beamtengehältern wollen sich die Parteigänger, die sich oft, wenn nicht meist, mit diesen wenig riskanten, aber einträglichen Pfründen versorgen lassen, nicht zufrieden geben . Eine Republik ist auf Amtswalter angewiesen, die größtmögliche Gewähr für die Unparteilichkeit und Sachlichkeit, für die Gesetzlichkeit und Rechtlichkeit, die Legalität der Verwaltung, für die Sittlichkeit des Gesetzesvollzuges also, geben. Das tradierte römische, wenn man so will, preußische, durchaus aber auch bayerische Amtsprinzip verliert sich mehr und mehr zu Lasten des Gemeinwesens, aber zum Vorteil der Parteien, deren postenhungrige Funktionäre oft die gesetzlichen Anforderungen für den öffentlichen Dienst nicht erfüllen, aber in privatistischen Einrichtungen der öffentlichen Hand ergiebiges Auskommen finden können. Partei-gänger sind keine geeigneten Beamten. Der Verfall des öffentlichen Dienstes ist ein Zeichen des Verfalls einer Republik, die, wie schon im antiken Rom, den Parteien anheimgefallen ist.
4. Integrationistischer Exekutivismus
Der Exekutivismus ist durch die Europäische Integration soweit verstärkt, daß das eherne Prinzip des Verfassungsstaates (Art. 16 Déclaration des droits de l`homme et du citoyen, 1789; PdR, 85, 180 ff.), die Gewaltenteilung zwischen der Legislative und der Exekutive, ruiniert ist (SD, 206 ff.). Mächtig sind in der Europäischen Union neben dem Europäischen Gerichtshof die Staats- und Regierungschefs, die mit den Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission den Europäischen Rat bilden (Art. 15 EUV), aber von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, durchaus auch die Beamten in der Europäischen Kommission und auch die in den mitgliedstaatlichen Ministerien. Der Parteienstaat kann schon deswegen nicht die verfassungsgewollte Form der Demokratie, besser der Republik, sein, weil die wichtigste Einrichtung einer Republik, das Parlament, im Parteienstaat, zumal im integrationistischen Parteienstaat, von den Regierungschefs entmachtet ist, jedenfalls solange die Ideologie des Integrationismus die Politik bestimmt. In der Europapolitik, welche alle Politikfelder bestimmt, gibt es keine durchsetzungsfähigen Oppositionen, welche eine politische Alternative zur Integration anbieten. Die Politiker oder Bürger, die das versuchen, werden aus der öffentlichen Debatte gedrängt, als seien sie Verfassungsfeinde. Dafür ist mit staatlichen Mitteln der „Kampf gegen Rechts“ institutionalisiert worden, den die Leitmedien, nicht nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk im engen Bündnis mit der Parteienoligarchie, uneingeschränkt unterstützen, ohne jede Rücksicht auf die politische Freiheit der Bürger. Moralismus ist seit eh und je ein wirksames Unterdrückungsmittel. Er ist das Gegenteil von Moralität.
V. Privatheit, Sittlichkeit und Moralität
1. Privatheit und Rechtlichkeit
Das Sittengesetz bestimmt auch die Privatheit. Das Grundrecht der allgemeinen Freiheit des Art. 2 Abs. 1 GG ist auch und wesentlich das Grundrecht der freiheitlichen Privat-heit (FridR, 449 ff., auch zum Folgenden). Die Privatheit entfaltet sich im Rahmen der Rechte zur freien Willkür, die der Staat den Privaten läßt und lassen muß, weil die Grundrechte, wie im übrigen auch die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, ein Privatheitsprinzip, nämlich den Grundsatz und Vorrang der Privatheit der Lebens-bewältigung, zu respektieren gebieten (Rprp, 386 ff., FridR, 465 ff. ). Das freiheitliche Ethos gebietet, daß die Menschen sich gegenseitig Privatheit zugestehen, weil jeder Mensch Zweck an sich selbst ist und darum das „Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“, Art. 2 Abs. 1 GG (FridR, 60 ff.). Das schließt das Recht ein, sein Glück zu suchen, the Persuit of Happiness der United States Declaration of Independence vom 4. Juli 1776. Schon die Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789 hat in Art. 4 Freiheit in diesem Sinne definiert, nämlich als das Recht, alles zu tun was man will, wenn man nur anderen nicht schadet. Was aber schade, würden die Gesetze bestimmen und die Gesetze seien der allgemeine Wille. Die Rechte zur Privatheit rechtfertigen nicht die Herrschsucht, Habsucht und Ehrsucht.
Privatheit ist, wie gesagt, das Recht zur freien Willkür, nicht das Recht zur Willkür. Freiheit ist Gesetzlichkeit, weil die äußere Freiheit durch die allgemeinen Gesetze geregelt ist und durch die Gesetzlichkeit des Handelns verwirklicht wird. Die Gesetze, welche die allgemeine Freiheit verwirklichen, sichern die allgemeine Verträglichkeit privaten Handelns. Mittels der Gesetze hat jeder Bürger dem privaten Handeln der Mitbürger zugestimmt; denn die Gesetze sind auch sein, nämlich allgemeiner Wille. Mit der Legalität des privaten Handelns ist das allseitige Einverständnis auch mit den Wirkungen dieses Handelns, die alle betreffen, geklärt. Es ist ausgeschlossen, daß alle über jede Handlung beraten und befinden. Die Gesetze legen die Maximen des Handelns fest, welche der Gesetzgeber, also die Bürgerschaft, für das gemeinsame gute Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für erforderlich, notwendig und verhältnismäßig (vgl. PdR, 342 ff.) erachtet, die somit von der praktischen Vernunft gefordert sind, damit niemandem geschadet wird (Grundsatz des neminem laedere). Ob freilich ein Handeln angesichts dessen, daß es die Welt aller verändert, anderen schadet, ist eine Frage der allgemeinen Gesetze, die den allgemeinen Willen zum Ausdruck bringen, auch den Willen, das Handeln anderer zu ertragen. Den privaten Handlungs-spielraum, den einer von den anderen zu akzeptieren erwartet, muß er freilich auch den anderen zugestehen. Dieses Reziprozitätsprinzip ist Teil des Rechtsprinzips (MdS, 345).
Die innere Freiheit, deren Gesetz ebenfalls der kategorische Imperativ ist (MdS, 526), wie auch Art. 2 Abs. 1 GG mit der Freiheitsgrenze des Sittengesetzes erweist, kann nicht erzwungen werden, aber von der Sittlichkeit hängt der Erfolg des Gemeinwesens ab, das größtmögliche Privatheit ermöglicht und ermöglichen soll. Wenn die privatheit-liche Lebensweise mißlingt, bleibt dem Gemeinwesen nichts anderes übrig, als die allgemeinen Gesetze zu ändern und, wenn es notwendig ist, die Staatlichkeit der Le-bensbewältigung zu intensivieren. Die Republik darf aber nicht zum vormund-schaftlichen Staat werden. Vielmehr bedarf der Staat, wenn er den Menschen Vor-schriften macht, guter Gründe. In diesem Sinne ist das Privatheitsprinzip ein menschheitliches Subsidiaritätsprinzip (Rprp, 386 ff.; FridR, 465 ff. ).
2. Privatheitlichkeit der freien Berufe, insbesondere der Ärzte
Das Privatheitsprinzip gilt auch und insbesondere für die freien Berufe, etwa auch für die Ärzte. Der Krankenversicherungssozialismus übertreibt die Staatlichkeit des Ge-sundheitswesens. Der Beruf des Arztes ist als freier Beruf privatheitlich und darum dem ärztlichen Ethos, das einen hohen Standard an Sittlichkeit einfordert, verpflichtet. Je mehr dieses Ethos gelebt wird, desto mehr kann sich der Staat aus dem Gesundheitswesen zurückziehen. Das ist allerdings auch eine Frage der Finanzierung der ärztlichen Dienstleistungen. Deren Sozialisierung nimmt den Patienten die wirt-schaftliche Verantwortung und eliminiert damit das Vertragsprinzip im Kern aus dem Gesundheitswesen. Ein Vertrag zu Lasten Dritter, der Versichertengemeinschaft, deren Mitgliedschaft und Beitragspflicht zudem der Staat vorschreibt, hat keine bürgerliche Qualität, schon gar nicht die Sittlichkeit republikanischer Privatheit. So sehr der Bürger durch Selbständigkeit charakterisiert ist, so sehr obliegt ihm die Selbstverantwortung. Staatliche Subsidiarität heißt auch, daß die Bürger die Lasten des Lebens selbst tragen, soweit das möglich und zumutbar ist. Der Freiberufler ist der Prototyp des Bürgers, der privatheitlich tätig ist, aber anderen Menschen und damit dem Gemeinwohl dient. Dieses freiheitliche Ethos steht dem Recht des Staates entgegen, die freien Berufe zu sozialisieren. Die Entwicklung des Kassenwesens läßt sich auch nur damit erklären, daß die politischen Parteien, ohnehin der Republikanität nicht fähig, die Interessen der Wähler bedienen wollen, freilich zu Lasten von Berufsständen, die keine große Zahl von Wählern repräsentieren. Immerhin sind fast 90 % der Menschen im Lande gesetz-lich krankenversichert. Die Krankenversicherungspolitik Deutschlands ist ein deutli-ches Beispiel für das sittliche Versagen des parteienstaatlichen Gesetzgebers. Bismarcks Sozialgesetze waren vormundschaftlich und können nicht das Modell des Sozialrechts eines freiheitlichen Gemeinwesens sein. Zudem wird den in den Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen zwangsorganisierten Ärzten mit dem unhaltbaren Argument, sie würden wegen ihrer öffentlichen Aufgabe zur mittelbaren Staatsverwaltung, also quasi zum Staat, gehören, das Grundrecht vorenthalten werden, welche das Erwerbsleben weitestgehend bestimmt, die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG mit der Tarifautonomie, die im Kern unantastbar ist . Die respektierte Koalitionsfreiheit, aber auch die Berufsfreiheit der Ärzteschaften würde den Krankenversicherungssozialismus revolutionieren und in diesem Bereich Freiheit, aber auch Effizienz die verfassungsgebotene Chance geben.
3. Unternehmen als res publica in der globalisierten Wirtschaft
Unternehmerische Tätigkeit ist durch die Privatheitlichkeit definiert (StUuPrR, 281 ff.; FridR, 487 ff.). Aber die Unternehmen sind auch Teil des Gemeinwesens und sollen nicht ausschließlich oder auch nur wesentlich den Eignern nützen. Unternehmen haben eine dienende Aufgabe in der Republik . Die Unternehmenspolitik des shareholder-value ist eine kapitalistische Verirrung. Eine sittliche für das Gemeinwesen erfolgreiche Unternehmensprivatheit wird durch den grenzenlosen und entgrenzten Kapitalverkehr desavouiert. Von Anteilseignern aus fernen und fremden Ländern kann nichts anderes erwartet werden als ein Renditeinteresse. Ihnen fehlt solidaritätsbegründende Zugehörigkeit zum Gemeinwesen. Die Annahme, jedweder Wettbewerb gewährleiste die größtmögliche soziale Gerechtigkeit, ist die Illusion des Marktfundamentalismus. Markt und Wettbewerb sind nur tragfähig, wenn sie durch einen Staat geordnet sind, der die Rechtlichkeit der Lebensverhältnisse, d. h. vor allem die soziale Gerechtigkeit, sichert, also dem bellum omnium contra omnes Grenzen zieht . Dann können Markt und Wettbewerb zu größtmöglicher Wirtschaftseffizienz führen.
Es ist Sache der Gesetze, den besten Weg zu ebnen, der das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fördert, wohl wissend, daß das gemeinsame Leben nicht nur staatlich, sondern global ist. Das beste Konzept scheint die weltweite Republik von Republiken zu sein, in denen eine allseits tragfähige Verbindung der Volkswirtschaften mit der Weltwirtschaft gestaltet wird. Keinesfalls verspricht ein unvollkommener Staat Erfolg, dem die Verantwortung für die Volkswirtschaft weitgehend aus der Hand genommen ist. Die Staaten müssen um des gemeinen Wohls willen die wirtschaftliche Hoheit trotz aller Privatheit und trotz aller Internationalität der Unternehmen behaupten . Die rechtlichen Institutionen der unternehmerischen Tätigkeit dürfen der Sittlichkeit nicht zuwider sein. Das Wettbewerbsprinzip aktiviert aus Erfahrung mit dem homo oeconomicus das Eigeninteresse der Unternehmer, aber der Wettbewerb muß allgemeinverträglich sein. Darum müssen die Staaten, soweit der Wettbewerb nicht durch Staatenverbünde geordnet ist, wie in der Europäischen Union (Art. 101 ff. AEUV), die Hoheit über ihre Unternehmen wahren. Zuträglich ist nur eine Wirtschafts-, Sozial- und im übrigen Währungseinheit eines Staates . Unternehmensethiker wissen um die Notwendigkeit der Sittlichkeit unternehmerischen Handelns , aber ihre Vorkehrungen und Mahnungen genügen nicht, um die Sittlichkeit gegen die Interessen vor allem der Kapitaleigner zu behaupten. Die privatheitliche Sittlichkeit bleibt ein notwendiges Postulat unternehmerischer Tätigkeit, der die Rechtsordnung ein Gerüst, um nicht zu sagen: ein Korsett, geben muß. Der homo noumenon bedarf des Schutzes gegen den homo phaenomenon.
Regelmäßig ist die privatheitliche Bewältigung der gemeinsamen Aufgaben der staatlichen Bewältigung vorzuziehen, aber das erfordert das Ethos des Gemeinwohls von den privaten Akteuren. Die Sozialpflichtigkeit spricht die Eigentumsgewährleistung des Grundgesetzes ausdrücklich in Absatz 2 des Artikel 14 an, nämlich: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ (vgl. FridR, 551 ff.). Weder der Kapitalismus noch der Sozialismus sind den Menschen zuträglich. Tragfähig ist nur ein Republikanismus der Sittlichkeit, die Bürgerlichkeit der Bürger. Die Sittlichkeit und Moralität der Bürger ist das stärkste Bollwerk gegen beide ökonomischen Fehlentwicklungen, die beide dem Gerechtigkeitsprinzip nicht zu genügen vermögen.
VI. Sittliches Eigentum
1. Eigentum als Menschen- und Grundrecht
Wesentliche Grundlage der freien Entfaltung der Persönlichkeit ist das Eigentum. Eigentum ist das rechtliche geschützte Eigene, das Eigene die Möglichkeiten des Handelns, die ein Mensch hat. Der rechtliche und damit der staatliche Schutz des Eigenen als Eigentum ist Sache der allgemeine Gesetze und damit der Politik der Bürgerschaft (FridR, 537 ff., auch zum Folgenden). Viele, wenn nicht die meisten Gesetze haben eigentumsrechtliche Wirkungen und verteilen damit Möglichkeiten des Handelns. Ohne Eigentum ist der Mensch nicht selbständig, aber Eigentum ist nicht etwa Freiheit. Freiheit ist zunächst einmal die menschliche Fähigkeit zu handeln, Eigentum die rechtlich geschützten Möglichkeiten des Handelns. Eigentum ist ein Menschenrecht (Art. 17 AEMR). Menschen sind ohne Eigentum ohnmächtig. Ihre Selbständigkeit beruht wesentlich auf Eigentum. Demgemäß gewährleistet Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG das Eigentum. Dieser Schutz ist nicht etwa nur der Schutz des Bestandes an Eigentum (offengelassen in BVerfGE 40, 65 (82 ff.)), sondern die Gewährleistung von Eigentum für alle Bürger, weil alle Bürger selbständig sein können sollen. Das ist die Logik von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Kant zur Einheit von Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit entwickelt hat (MdS, 432 ff.; ÜdG, 150 ff.). Wie Art. 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte schützt auch das Grundgesetz das Recht am und das Recht auf Eigentum (FridR, 551 ff. ). Beides kann das Gemeinwesen nur durch eine Gesetzgebung gewährleisten, welche dem Sozialprinzip gemäß Eigentum zuteilt. Eigentum ist somit immer Sache der Gesetze. Demgemäß werden nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG „Inhalt und Schranken“ des Eigentums „durch Gesetze bestimmt“. Diese Gesetze, d.h. alle Gesetze, müssen die menschenrechtliche und grundrechtliche Entscheidung für das Eigentum achten. Die verfassungsrechtliche Eigentumsgewährleistung steht nicht etwa zur Disposition des Gesetzgebers. Vielmehr hat der Gesetzgeber die politische Leitentscheidung für das Eigentum zu materialisieren. Die Inhaltsbestimmung ist die Materialisierung des vielfältigen Eigenen als Eigentum. Das erfordert Erkenntnis der jeweils sachgerechten Eigentumsordnung, die der Vielfalt des Eigenen gemäß vielfältig ist. Die Schrankenbestimmung erlaubt dem Gesetzgeber, den Eigentumsschutz, der um des Eigenen willen geboten ist, zu verkürzen, um dem Gemeinwohl gerecht zu werden. Dabei muß er alle Leitentscheidungen der Verfassung und des Verfassungsgesetzes berücksichtigen. Die Belange des Gemeinwohls, um deretwillen der Eigentumsschutz beschränkt wird, müssen selbst durch die Verfassung oder das Verfassungsgesetz gestützt sein. Die Eigentumsgesetzgebung ist somit bestmögliche Verfassungsverwirk-lichung, die der erkennenden Abwägung aller Umstände bedarf. Inhalts- und Schran-kenbestimmung finden sich logisch in denselben Gesetzen, welche dem Eigenen Rechtsschutz, also Staatsschutz, geben. Es ist wiederum Aufgabe der Hüter der Verfassung, d.h. aller Bürger und stellvertretend für diese vor allem Aufgabe der Rechtsprechung, darüber zu wachen, daß die Rechtsordnung dem Eigentumsprinzip genügt.
2. Privatnützigkeit und Sozialpflichtigkeit
Eigentum ist ein Grundprinzip der Privatheitlichkeit der Lebensverhältnisse; denn nur private Möglichkeiten können als Eigentum geschützt werden, seien sie auch durch Vorschriften des öffentlichen Rechts gewährleistet. Der Staat ist des Eigentums nicht fähig. Ihm eignet keinerlei Privatheit, auch keine Privatrechtsfähigkeit, wie das, entgegen dem Republikprinzip, die Fiskusdoktrin praktiziert (dazu StUuPrR, 1986). Der Staat kann Sachherrschaft haben, die sich ausschließlich nach dem öffentlichen Recht beurteilt. Der Staat hat kein Eigenes, sondern ist die Einrichtung des Gemeinwesens zur Verwirklichung des gemeinen Wohls, nämlich des guten Lebens aller Bürger in allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, des Willens des Volkes. Das Bundesverfassungsgericht dogmatisiert die Privatnützigkeit als das Wesen des Eigentums (etwa BVerfGE 24, 367 (390); 100, 289 (303); st. Rspr.), zu Recht. Mit der Sozialpflichtigkeit, die Art. 14 Abs. 2 GG ausdrücklich, wie zitiert, anspricht, ist die Sittlichkeit des Gebrauchs des Eigentums in den Text des Grundgesetzes aufgenommen und zur Rechtspflicht gemacht worden, die freilich der Materialisierung durch Gesetze bedarf (BVerfGE 20, 351 (356); 25, 112 (117)). Der Eigentümer, der sein Eigentum nutzt, handelt, abgesehen von den gesetzlichen Verpflichtungen nur im Sinne der Eigentumsverfassung, wenn er den kategorischen Imperativ achtet. Sein Eigentumsge-brauch ist freiheitliches Handeln, das dem Sittengesetz verpflichtet ist. Nur Sittlichkeit der Eigentümer sichert die Republikanität der Lebensverhältnisse, zumal das Eigen-tumsgrundrecht die unternehmerische Freiheit schützt; denn auch Unternehmen sind ein Eigentum im Sinne des Art. 14 GG . Der Eigentumsgebrauch, der das Sittengesetz mißachtet, führt zu Fehlentwicklungen zumal der Verteilung der Lebensmöglichkeiten im Gemeinwesen, dessen Grundprinzip, aristotelischer Lehre gemäß, das Mittlere auch des Wohlstandes ist (Nikomachische Ethik, Zweiter Band).
3. Eigentumsverteilung und Marktlichkeit
Auf der Grundlage der Gleichheit, die kraft der Allgemeinheit der Gesetze das freiheitliche Grundprinzip der Verteilungspolitik ist, sind die Verteilungsprinzipien des Rechts der Bedarf, die Leistung, das Eigentum selbst (vor allem wegen des Erbrechts) und der Markt (FridR, 579 ff., 586 ff.). Die Verteilung, die der Markt hervorbringt, ist rechtmäßig, obwohl sie keine Gerechtigkeit in einem sonstigen Sinne, etwa in dem der iustitia distributiva, gewährleistet; denn der Markt ist ein Rechtsprinzip der privatheitlichen, zumal durch Eigentum auch und gerade an Unternehmen (arg. aus Art. 15 GG), gestalteten Wirtschaftsordnung. Das Unionsrecht kennt zudem neben vielfälti-gen Einrichtungen des Marktes und des Wettbewerbs den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 119 Abs. 1 und 2, Art. 120 und Art. 127 Abs 1 AEUV) und verfaßt dadurch und mehr noch durch die Grundfreiheiten des Binnenmarktes (Art. 26 Abs. 2 AEUV und AEUV Art. 28 ff. (Warenverkehrs-freiheit), Art. 45 ff. (Arbeitnehmerfreizügigkeit), Art. 49 ff. (Niederlassungsfreiheit). Art. 56 ff. (Dienstleistungsfreiheit), Art. 63 ff. (Kapitalverkehrsfreiheit) und das Wett-bewerbsprinzip (Art. 101 ff. EGV) eine Marktwirtschaft , die freilich das Sozialprinzip nicht vernachlässigen darf (Art. 2 EGV). Das ergibt die Wirtschaftsverfassung der marktlichen Sozialwirtschaft, die sich von dem Schlagwort von der sozialen Marktwirt-schaft dadurch unterscheidet, daß der Verantwortung des Gemeinwesens für das allgemeine Wohl auch begrifflich der verfassungsgebotene Primat vor dem Effiziens-prinzip der Marktlichkeit zugemessen wird . Entgegen der Souveränität der Mitglied-staaten und entgegen den ökonomischen Gesetzen und der praktischen Vernunft verfaßt das Unionsrecht zudem eine Wirtschafts- und Währungsunion, die zu einer einheit-lichen Währung eines Teils der Mitgliedstaaten geführt hat, die gescheitert ist, aber mit allen Mittel verteidigt wird (SD, 246 ff.) .
Wie Aristoteles haben auch Rousseau und Montesquieu einen mittleren Wohlstand zwischen Reichtum und Armut zum Prinzip der Polis, der Republik erklärt (Cs, III, 4; Vom Geist der Gesetze, Fünftes Buch, Drittes Kap.). Der Kapitalismus ist nicht republikanisch, weil das Prinzip der Republik die Sittlichkeit im Sinne des kategori-schen Imperativs ist, die wiederum auf die Moralität der Bürger angewiesen ist. Die Entwicklung zum Kapitalismus ist ein deutliches Zeichen für die Entdemokratisierung der Lebensverhältnisse, die der Sache nach eine Entpolitisierung ist. Das Menschen-recht des Eigentums gewährleistet die größtmögliche Privatheit der Lebensverhältnisse, aber nur, wenn erstens die freiheitliche Privatheit im Sinne einer Freiheit verstanden wird, deren inneres Prinzip die praktische Vernunft, die Sittlichkeit ist, und zweitens alle Bürger ein ausreichendes Eigentum haben.
4. Flächentarifverträge als nationale Verteilungsregelungen
Die Rechtsordnung verfügt über vielfältige Einrichtungen der Eigentumsverteilung. Der wichtigste ist der privatheitliche Flächentarifvertrag zwischen den Unternehmern und den Arbeitnehmern, also unter den, wenn man so will, Produzenten der Güter, der Möglichkeiten des Lebens, die verteilt werden sollen. Wäre die Verteilung wesentlich Sache des Staates, wäre nicht nur der Marktwirtschaft die Grundlage entzogen, sondern das Gemeinwesen wäre nicht regierbar, schon gar nicht als Parteienstaat. Das Scheitern des realen Sozialismus hat erwiesen, daß ein Staat, der alles verteilen will, überfordert ist. Vor allem ist ein solcher Staat paternalistisch, also „der größte denkbare Despotis-mus“ (ÜdG, 145 f.). Es kann nur verteilt werden, was geschaffen worden ist. Die Leistungsgrenzen können nur die Unternehmer, die in der wettbewerblichen Verant-wortung stehen, einschätzen, aber die Arbeitnehmer müssen ihren Anteil aushandeln können. Durch ihre Gewerkschaften haben sie die erforderliche Verhandlungsmacht. Ihre Verteilungsmaßstäbe werden im Gemeinwesen, das nach dem Prinzip der Brüder-lichkeit, dem Sozialprinzip, auf die Einheitlichkeit oder die Gleichartigkeit der Lebens-verhältnisse (Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 bzw. Art. 72 Abs. 2 GG) ausgerichtet ist, mittels der Gesetze (Gehälter, Renten usw.) verallgemeinert.
5. Notwendigkeit der Volkswirtschaft
Eine tragfähige Verteilung gelingt in einer globalisierten Wirtschaft nicht mehr, weil die dem Verteilungsprinzip zugrundeliegende Solidarität des Gemeinwesens aufgelöst ist. Der Ertrag der Volkswirtschaft fließt wegen der internationalen Anteilseigner der Unternehmen und der Zinspflichten gegenüber ausländischen Banken zum Teil in fremde Länder. Der Staat muß die privatwirtschaftlichen Verteilungsergebnisse, die auch durch leistungswidrige Besteuerung erzielt sind, durch bedrückende Soziallei-stungen ausgleichen. Zunehmend müssen leistungsfähige Staaten vor allem wegen der wettbewerblichen Fehlentwicklungen des Binnenmarktes und noch mehr des globalen Marktes, verschärft durch die regionale Währungseinheit, welche den Schutz des natio-nalen Marktes durch Abwertungen ausschließt, fremde Staaten finanzieren. Mit der Souveränität der Völker, sowohl der Nehmer- als auch der Geberstaaten, ist das unvereinbar (SD, 254 ff.). Die Rechtfertigung wird in der Integration des Binnen-marktes zu einer politischen Union, zu einem Staat gesucht. Der wird durch das Postulat der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bestimmt sein, das jetzt schon wirkmächtig ist. Das Projekt ist zum Scheitern verurteilt, weil die Homogenität der Völker als Voraussetzung eines freiheitlichen Gemeinwesens, das der Solidarität fähig ist, fehlt. Das Projekt ist auch ökonomisch ohne Chance, weil die Volkswirtschaften der betrof-fenen Länder allzu heterogen sind. Sie bilden insbesondere keinen optimalen Wäh-rungsraum, ja nicht einmal einen geeigneten Binnenmarkt. Die ökonomischen Voraus-setzungen des politischen Großprojekts fehlen und lassen sich nicht administrativ bewerkstelligen. Die gleichzeitig kapitalistische wie sozialistische Integrationspolitik ist uneuropäisch. Der Großstaat Europa widerspricht der Vielheit der souveränen Völ-ker Europas mit deren vielfältigen Unterschieden (SD, 241 ff.). Er wird der Bürger-lichkeit der Bürger nicht gerecht, deren Völker allein sittliche Staaten, Republiken, freiheitliche Gemeinwesen bilden können. Der Großstaat wird unvermeidlich despo-tisch sein. Schon jetzt ist die Europäische Union eine bürokratische Diktatur, die nur noch Rückstände an Demokratie aufweist. Die Einheit Europas kann nur eine Republik der Republiken, der „Föderalism freier Staaten“ sein, den Kant in der Friedensschrift vorgeschlagen hat. Staat und Wirtschaft müssen im Sinne einer bürgerlichen Volkswirt-schaft eine Einheit bilden, wenn das Sozialprinzip und damit die Sittlichkeit freien Wirt-schaftens Wirklichkeit finden soll. Das kann nur eine Bürgerschaft leisten, welche die Hoheit über die Wirtschaft hat. Die Einheit von Staat und Wirtschaft sind Bedingungen der sozialen Gerechtigkeit. Das Dilemma globalisierter Unternehmen und nationaler Verteilungspolitik zeigt sich in dem Postulat der Unternehmer nach betriebsbezogenen Tarifverträgen. Die allerdings darf der Gesetzgeber nicht vorschreiben, weil dem die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie entgegensteht .
6. Wohlstand und parteienstaatliche Stabilität
Die Befriedung des Gemeinwesens durch wachsenden Wohlstand, der eine geradezu sozialistische Umverteilung wesentlicher Kosten des Lebens, zumal derer für die Gesundheit und für das Alter, aber auch für den Lebensunterhalt, wenn es an Einkom-men fehlt (vor allem bei Arbeitslosigkeit und im Alter), ermöglicht hat, hat vor allem wegen der Zinswirtschaft stetiges Wachstum vorausgesetzt. Diese Zeit geht in Deutschland zu Ende, weil Deutschland die Rahmenbedingungen für eine Wachstums-wirtschaft beseitigt hat, vor allem durch seinen überzogenen Integrationismus und Inter-nationalismus, aber auch durch Übermaß an Wohlfahrt und ein Untermaß an Leistung. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands geschwächt, das außer der Wiederver-einigung mit der ruinierten DDR, vormals billiger Lieferant für Westdeutschland, auch noch die Finanzierung wettbewerbsschwacher Unionsstaaten verkraften soll. Zur Zeit sieht sich Deutschland durch die Finanzindustrie und in deren Interesse genötigt, vermeintlich um den Euro als „unsere Währung“ zu verteidigen, anderen Mitgliedern des Euro-Verbundes die gleichen Lebensverhältnisse zu sichern, die diesen die Kreditsubvention der überbewerteten Währung geschaffen hat. Es trägt auf verschiede-nen Wegen zur Staatsfinanzierung fremder Staaten bei, nämlich durch Rettungsschirme (EFSF und ESM) und, kaschiert als Geldpolitik, durch das Europäische System der Zentralbanken, vertrags- und verfassungswidrig, durch weitgehende Rechtschutzver-weigerung ermöglicht (DS, 254 ff.) . Den globalen, mittels Arbeits- und Sozialkosten geführten und durch die bedenkliche (fast) weltweite Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EGV) ermöglichten , Wettbewerb, dem sich das in die globale Wirtschaft integrierte Deutschland ohne Schutzvorkehrungen ausgeliefert hat, wird die deutsche Wirtschaft entgegen der Krisenkonjunktur dank des langgezogenen Währungszusammenbruchs, die vornehmlich dem mit dem Weltwirtschaft unvereinbaren „Preisdumping“ durch marktwidrige Unterbewertung der Währung Deutschlands zu danken ist, nicht verkraf-ten. Deutschland hat seinen größten weltwirtschaftlichen Vorteile, die binnen- und außenwirtschaftliche Markthoheit und vor allem entgegen dem Stabilitätsprinzip des Grundgesetzes aus dem Sozialprinzip und der Eigentumsgewährleistung für die europäische Integration und auch des Maastricht-Vertrages die marktgerechte eigene Währung, die DM, geopfert . Die vorübergehenden Exportvorteile wiegen die Nach-teile des Binnenmarktes, zumal die Kaufkraft- und Zinsverluste der Bevölkerung, weder ökonomisch noch gar legitimatorisch auf. Dem deutschen Parteienstaat wird die Akzeptanz verloren gehen, die in dem Satz zum Ausdruck kam: „Uns geht es doch gut“, wenn die betroffene Bevölkerung realisieren wird, in welchem Maße die politische Klasse sie geschädigt hat. Es wird sich erweisen, daß allein Sittlichkeit und Moralität ein Gemeinwesen, dessen Leitprinzipen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind, zu tragen vermag. Erste Voraussetzung für die Rückgewinnung der praktischen Vernunft ist die Enttabuisierung der öffentlichen Rede, deren Gegenstand Wahrheit und Richtig-keit sein, aber auch sein können müssen. Das Postulat ist die Überwindung jeder Art von Propaganda, insbesondere der integrationistischen und internationalistischen.
Schluß
Kants Verfassung der Freiheit ist das Rechtsprinzip von Bürgern, die als Bürger, also in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit leben wollen. Das sind Menschen, zumal Europäer, sich und der Menschheit der Menschen schuldig. Das macht ihre Würde aus. Dafür müssen sie die Republik, wie sie Kant in seiner Freiheitsphilosophie konzipiert und wie sie das Grundgesetz verfaßt hat, verteidigen, ja erst verwirklichen. Diese Republik muß demokratisch und sozial sein. Sie muß vor allem das Recht achten, wieder Rechtsstaat werden. Das alles können in Europa nur die Nationen leisten, die als Republiken befähigt sind, ein europäisches Europa zu bauen, ein Europa des äußeren und inneren Friedens, ein Europa, in dem die Bürger souverän, nämlich frei sind. Die postnationale Utopie ist das Verhängnis. Nur in den kleinen, gewachsenen Gemein-wesen im friedlichen Verbund mit allen europäischen Nachbarn können die Menschen in Europa im Recht als dem Prinzip, das aus der Idee der Freiheit fließt, leben und ein gutes Leben führen – im Geiste der griechischen κοινωνία πολιτική, der römischen res publica, der christlichen Nächstenliebe und aufklärerischer praktischer Vernunft, in bester Tradition des Naturrechts und der Menschwürde des Modernen Staates, ein „schönes Leben“, wie das die Botschaft Michael Stahls ist.